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Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 2. Leipzig, 1796.

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lernen, auch mit nothdürftiger Kleidung zu ver-
sehen, wenn er Lust und Beruf zu ersterm fühle;
der arme Konrad ergriff die einzige Aussicht, wel-
che sich ihm öfnete, mit großem Danke, und ar-
beitete bald eben so fleißig und emsig auf dem
Schusterschemmel, als er zuvor an seinem Stu-
diertische gelesen und geschrieben hatte.

Seine Lehrjahre verflossen still und ruhig, er
erwarb sich durch sein sittsames, fleißiges Betra-
gen die Liebe seines Meisters, die Neigung der
Gesellen; oft träufelte freilich eine Thräne, die
er dem Andenken seines edlen Pflegvaters weihte,
auf seine Arbeit, aber die rohen, unempfindlichen
Mitarbeiter achteten seiner Empfindung nicht, und
er genoß ungestört das traurige Vergnügen, sein
Herz der tiefen Melancholie zu öfnen. Als er
zum Gesellen ernannt wurde, gab ihm sein Mei-
ster das schönste Zeugniß seiner Geschicklichkeit,
die er nun nach Handwerksbrauche durch einige
Jahre in fremden Ländern zu vermehren suchen
sollte.

Diese Wanderschaft hatte für ihn großen und
mancherlei Reiz; seine Wißbegierde, welche er bei
solch einer einfachen, mechanischen Arbeit sehr
wenig befriedigen konnte, wurde dadurch mächtig
aufgeregt, der Hang zur Melancholie wich, sein
Geist erheiterte sich, wenn er durch schöne, an-
genehme Gefilde wanderte, oder in der Ferne die
vielen Thurmspitzen einer großen Stadt hervorra-
gen sah. Sein unglückliches Schicksal war in

lernen, auch mit nothduͤrftiger Kleidung zu ver-
ſehen, wenn er Luſt und Beruf zu erſterm fuͤhle;
der arme Konrad ergriff die einzige Ausſicht, wel-
che ſich ihm oͤfnete, mit großem Danke, und ar-
beitete bald eben ſo fleißig und emſig auf dem
Schuſterſchemmel, als er zuvor an ſeinem Stu-
diertiſche geleſen und geſchrieben hatte.

Seine Lehrjahre verfloſſen ſtill und ruhig, er
erwarb ſich durch ſein ſittſames, fleißiges Betra-
gen die Liebe ſeines Meiſters, die Neigung der
Geſellen; oft traͤufelte freilich eine Thraͤne, die
er dem Andenken ſeines edlen Pflegvaters weihte,
auf ſeine Arbeit, aber die rohen, unempfindlichen
Mitarbeiter achteten ſeiner Empfindung nicht, und
er genoß ungeſtoͤrt das traurige Vergnuͤgen, ſein
Herz der tiefen Melancholie zu oͤfnen. Als er
zum Geſellen ernannt wurde, gab ihm ſein Mei-
ſter das ſchoͤnſte Zeugniß ſeiner Geſchicklichkeit,
die er nun nach Handwerksbrauche durch einige
Jahre in fremden Laͤndern zu vermehren ſuchen
ſollte.

Dieſe Wanderſchaft hatte fuͤr ihn großen und
mancherlei Reiz; ſeine Wißbegierde, welche er bei
ſolch einer einfachen, mechaniſchen Arbeit ſehr
wenig befriedigen konnte, wurde dadurch maͤchtig
aufgeregt, der Hang zur Melancholie wich, ſein
Geiſt erheiterte ſich, wenn er durch ſchoͤne, an-
genehme Gefilde wanderte, oder in der Ferne die
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[101/0109] lernen, auch mit nothduͤrftiger Kleidung zu ver- ſehen, wenn er Luſt und Beruf zu erſterm fuͤhle; der arme Konrad ergriff die einzige Ausſicht, wel- che ſich ihm oͤfnete, mit großem Danke, und ar- beitete bald eben ſo fleißig und emſig auf dem Schuſterſchemmel, als er zuvor an ſeinem Stu- diertiſche geleſen und geſchrieben hatte. Seine Lehrjahre verfloſſen ſtill und ruhig, er erwarb ſich durch ſein ſittſames, fleißiges Betra- gen die Liebe ſeines Meiſters, die Neigung der Geſellen; oft traͤufelte freilich eine Thraͤne, die er dem Andenken ſeines edlen Pflegvaters weihte, auf ſeine Arbeit, aber die rohen, unempfindlichen Mitarbeiter achteten ſeiner Empfindung nicht, und er genoß ungeſtoͤrt das traurige Vergnuͤgen, ſein Herz der tiefen Melancholie zu oͤfnen. Als er zum Geſellen ernannt wurde, gab ihm ſein Mei- ſter das ſchoͤnſte Zeugniß ſeiner Geſchicklichkeit, die er nun nach Handwerksbrauche durch einige Jahre in fremden Laͤndern zu vermehren ſuchen ſollte. Dieſe Wanderſchaft hatte fuͤr ihn großen und mancherlei Reiz; ſeine Wißbegierde, welche er bei ſolch einer einfachen, mechaniſchen Arbeit ſehr wenig befriedigen konnte, wurde dadurch maͤchtig aufgeregt, der Hang zur Melancholie wich, ſein Geiſt erheiterte ſich, wenn er durch ſchoͤne, an- genehme Gefilde wanderte, oder in der Ferne die vielen Thurmſpitzen einer großen Stadt hervorra- gen ſah. Sein ungluͤckliches Schickſal war in

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Zitationshilfe: Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 2. Leipzig, 1796, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien02_1796/109>, abgerufen am 22.11.2024.