Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796.

Bild:
<< vorherige Seite

stand war unwiederbringlich verloren, der schreck-
liche Anblick des todten Vaters, die noch schreckli-
chere Vermuthung, daß sie die Schuld desselben
trage, hatte ihn zerrüttet. Sie raßte, überwäl-
tigte oft die Wärterinnen, und suchte ein Werk-
zeug, um sich zu ermorden. Ich habe ihm den
Dolch in's Herz gestoßen, das Blut floß strom-
weiße von seinem Sarg herab, rief sie immer,
ich habe den schrecklichsten Tod verdient, ihr
müßt mich binden, und dem Gerichte überlie-
fern!

Am Abende mußte die betrübte Gemeinde auch
wirklich zu diesem Mittel schreiten, und ihre
Hände fesseln, denn sie hatte sich einigemal schon
selbst erdrosseln wollen. Sie hoften noch immer
sehnlich auf Besserung, als sie nicht erfolgte,
holten sie auf ihre Unkosten einen berühmten Arzt.
Er konnte in ihren Umständen wenig zu ihrer Lin-
derung, zur vollkommnen Hülfe gar nichts, bei-
tragen, doch behauptete er, daß es sich mit ihrer
Entbindung, die jetzt mächtig nahte, von selbst
bessern werde. Ehe diese Stunde ganz nahte,
duldete die arme Wahnsinnige schreckliche Mar-
tern und Leiden, ihre Einbildungskraft führte sie
jeden Tag oft und vielmals auf's Schaffot: dies
war ihr einziger, nie ganz weichender Gedanke.
Oft stand sie vor ihren Richtern, bekannte mit
rührenden Worten ihre ganze Schuld, und klagte
sich endlich selbst als Vatermörderin an; sie ließ

ſtand war unwiederbringlich verloren, der ſchreck-
liche Anblick des todten Vaters, die noch ſchreckli-
chere Vermuthung, daß ſie die Schuld deſſelben
trage, hatte ihn zerruͤttet. Sie raßte, uͤberwaͤl-
tigte oft die Waͤrterinnen, und ſuchte ein Werk-
zeug, um ſich zu ermorden. Ich habe ihm den
Dolch in's Herz geſtoßen, das Blut floß ſtrom-
weiße von ſeinem Sarg herab, rief ſie immer,
ich habe den ſchrecklichſten Tod verdient, ihr
muͤßt mich binden, und dem Gerichte uͤberlie-
fern!

Am Abende mußte die betruͤbte Gemeinde auch
wirklich zu dieſem Mittel ſchreiten, und ihre
Haͤnde feſſeln, denn ſie hatte ſich einigemal ſchon
ſelbſt erdroſſeln wollen. Sie hoften noch immer
ſehnlich auf Beſſerung, als ſie nicht erfolgte,
holten ſie auf ihre Unkoſten einen beruͤhmten Arzt.
Er konnte in ihren Umſtaͤnden wenig zu ihrer Lin-
derung, zur vollkommnen Huͤlfe gar nichts, bei-
tragen, doch behauptete er, daß es ſich mit ihrer
Entbindung, die jetzt maͤchtig nahte, von ſelbſt
beſſern werde. Ehe dieſe Stunde ganz nahte,
duldete die arme Wahnſinnige ſchreckliche Mar-
tern und Leiden, ihre Einbildungskraft fuͤhrte ſie
jeden Tag oft und vielmals auf's Schaffot: dies
war ihr einziger, nie ganz weichender Gedanke.
Oft ſtand ſie vor ihren Richtern, bekannte mit
ruͤhrenden Worten ihre ganze Schuld, und klagte
ſich endlich ſelbſt als Vatermoͤrderin an; ſie ließ

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0098" n="84"/>
&#x017F;tand war unwiederbringlich verloren, der &#x017F;chreck-<lb/>
liche Anblick des                     todten Vaters, die noch &#x017F;chreckli-<lb/>
chere Vermuthung, daß &#x017F;ie die Schuld                     de&#x017F;&#x017F;elben<lb/>
trage, hatte ihn zerru&#x0364;ttet. Sie raßte, u&#x0364;berwa&#x0364;l-<lb/>
tigte oft                     die Wa&#x0364;rterinnen, und &#x017F;uchte ein Werk-<lb/>
zeug, um &#x017F;ich zu ermorden. Ich habe                     ihm den<lb/>
Dolch in's Herz ge&#x017F;toßen, das Blut floß &#x017F;trom-<lb/>
weiße von &#x017F;einem                     Sarg herab, rief &#x017F;ie immer,<lb/>
ich habe den &#x017F;chrecklich&#x017F;ten Tod verdient,                     ihr<lb/>
mu&#x0364;ßt mich binden, und dem Gerichte u&#x0364;berlie-<lb/>
fern!</p><lb/>
        <p>Am Abende mußte die betru&#x0364;bte Gemeinde auch<lb/>
wirklich zu die&#x017F;em Mittel                     &#x017F;chreiten, und ihre<lb/>
Ha&#x0364;nde fe&#x017F;&#x017F;eln, denn &#x017F;ie hatte &#x017F;ich einigemal                     &#x017F;chon<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t erdro&#x017F;&#x017F;eln wollen. Sie hoften noch immer<lb/>
&#x017F;ehnlich auf                     Be&#x017F;&#x017F;erung, als &#x017F;ie nicht erfolgte,<lb/>
holten &#x017F;ie auf ihre Unko&#x017F;ten einen                     beru&#x0364;hmten Arzt.<lb/>
Er konnte in ihren Um&#x017F;ta&#x0364;nden wenig zu ihrer                     Lin-<lb/>
derung, zur vollkommnen Hu&#x0364;lfe gar nichts, bei-<lb/>
tragen, doch                     behauptete er, daß es &#x017F;ich mit ihrer<lb/>
Entbindung, die jetzt ma&#x0364;chtig nahte,                     von &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
be&#x017F;&#x017F;ern werde. Ehe die&#x017F;e Stunde ganz nahte,<lb/>
duldete die arme                     Wahn&#x017F;innige &#x017F;chreckliche Mar-<lb/>
tern und Leiden, ihre Einbildungskraft fu&#x0364;hrte                     &#x017F;ie<lb/>
jeden Tag oft und vielmals auf's Schaffot: dies<lb/>
war ihr einziger,                     nie ganz weichender Gedanke.<lb/>
Oft &#x017F;tand &#x017F;ie vor ihren Richtern, bekannte                     mit<lb/>
ru&#x0364;hrenden Worten ihre ganze Schuld, und klagte<lb/>
&#x017F;ich endlich &#x017F;elb&#x017F;t                     als Vatermo&#x0364;rderin an; &#x017F;ie ließ<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[84/0098] ſtand war unwiederbringlich verloren, der ſchreck- liche Anblick des todten Vaters, die noch ſchreckli- chere Vermuthung, daß ſie die Schuld deſſelben trage, hatte ihn zerruͤttet. Sie raßte, uͤberwaͤl- tigte oft die Waͤrterinnen, und ſuchte ein Werk- zeug, um ſich zu ermorden. Ich habe ihm den Dolch in's Herz geſtoßen, das Blut floß ſtrom- weiße von ſeinem Sarg herab, rief ſie immer, ich habe den ſchrecklichſten Tod verdient, ihr muͤßt mich binden, und dem Gerichte uͤberlie- fern! Am Abende mußte die betruͤbte Gemeinde auch wirklich zu dieſem Mittel ſchreiten, und ihre Haͤnde feſſeln, denn ſie hatte ſich einigemal ſchon ſelbſt erdroſſeln wollen. Sie hoften noch immer ſehnlich auf Beſſerung, als ſie nicht erfolgte, holten ſie auf ihre Unkoſten einen beruͤhmten Arzt. Er konnte in ihren Umſtaͤnden wenig zu ihrer Lin- derung, zur vollkommnen Huͤlfe gar nichts, bei- tragen, doch behauptete er, daß es ſich mit ihrer Entbindung, die jetzt maͤchtig nahte, von ſelbſt beſſern werde. Ehe dieſe Stunde ganz nahte, duldete die arme Wahnſinnige ſchreckliche Mar- tern und Leiden, ihre Einbildungskraft fuͤhrte ſie jeden Tag oft und vielmals auf's Schaffot: dies war ihr einziger, nie ganz weichender Gedanke. Oft ſtand ſie vor ihren Richtern, bekannte mit ruͤhrenden Worten ihre ganze Schuld, und klagte ſich endlich ſelbſt als Vatermoͤrderin an; ſie ließ

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796/98
Zitationshilfe: Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796/98>, abgerufen am 24.11.2024.