und Kummer niedergedrückt, an dieser Stätte er- scheinen, darf's nicht wagen, meine Augen zu Gott zu erheben, muß reumüthig an meine Brust klopfen, und demüthig ausrufen: Gott sei mir Sünder gnädig! Ich kann nicht mehr, andäch- tige Zuhörer, in euer Auge vertrauend blicken, tiefe Schaam fesselt das meinige am Boden, weil ich euch Aergerniß gab, weil ich verdient habe, daß man einen Mühlstein an meinen Hals hänge, und mich im Meere versenkte, wo es am tiefsten ist. Oft, liebe Hausväter und Mütter, habe ich eure wenige Wachsamkeit, mit welcher ihr eure Kinder erzogt, in heftigen Worten getadelt, jetzt muß ich mich dieses Verbrechens bei euch ankla- gen, muß ausrufen: Schändlicher Vater! du hast's geduldet, als deine Tochter buhlte, du hast ruhig geschlafen, als sie deinen und ihren Ruf entehrte, als sie dem Volke Aergerniß gab! Dir wird es schwer werden, deine Nachlässigkeit vor Gottes Throne zu verantworten, du kannst nun nicht mehr freudig vor ihn hintreten und sagen: Herr, hier bin ich, und diejenigen, die du mir gegeben hast! Oft, liebe Jungfrauen und Jünglinge, habe ich euch ermahnt, auf dem Pfa- de der Ehre und Tugend zu wandeln! Oft habe ich in strengen Worten eure unschuldigen Lustbar- keiten getadelt, sie im heiligen Eifer den Reiz zur Sünde, den Anfang des Lasters genannt: jetzt muß ich schweigen, denn der Blick auf mein ge- fallnes Kind würde mich erinnern, daß ich straf-
und Kummer niedergedruͤckt, an dieſer Staͤtte er- ſcheinen, darf's nicht wagen, meine Augen zu Gott zu erheben, muß reumuͤthig an meine Bruſt klopfen, und demuͤthig ausrufen: Gott ſei mir Suͤnder gnaͤdig! Ich kann nicht mehr, andaͤch- tige Zuhoͤrer, in euer Auge vertrauend blicken, tiefe Schaam feſſelt das meinige am Boden, weil ich euch Aergerniß gab, weil ich verdient habe, daß man einen Muͤhlſtein an meinen Hals haͤnge, und mich im Meere verſenkte, wo es am tiefſten iſt. Oft, liebe Hausvaͤter und Muͤtter, habe ich eure wenige Wachſamkeit, mit welcher ihr eure Kinder erzogt, in heftigen Worten getadelt, jetzt muß ich mich dieſes Verbrechens bei euch ankla- gen, muß ausrufen: Schaͤndlicher Vater! du haſt's geduldet, als deine Tochter buhlte, du haſt ruhig geſchlafen, als ſie deinen und ihren Ruf entehrte, als ſie dem Volke Aergerniß gab! Dir wird es ſchwer werden, deine Nachlaͤſſigkeit vor Gottes Throne zu verantworten, du kannſt nun nicht mehr freudig vor ihn hintreten und ſagen: Herr, hier bin ich, und diejenigen, die du mir gegeben haſt! Oft, liebe Jungfrauen und Juͤnglinge, habe ich euch ermahnt, auf dem Pfa- de der Ehre und Tugend zu wandeln! Oft habe ich in ſtrengen Worten eure unſchuldigen Luſtbar- keiten getadelt, ſie im heiligen Eifer den Reiz zur Suͤnde, den Anfang des Laſters genannt: jetzt muß ich ſchweigen, denn der Blick auf mein ge- fallnes Kind wuͤrde mich erinnern, daß ich ſtraf-
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und Kummer niedergedruͤckt, an dieſer Staͤtte er-
ſcheinen, darf's nicht wagen, meine Augen zu
Gott zu erheben, muß reumuͤthig an meine Bruſt
klopfen, und demuͤthig ausrufen: Gott ſei mir
Suͤnder gnaͤdig! Ich kann nicht mehr, andaͤch-
tige Zuhoͤrer, in euer Auge vertrauend blicken,
tiefe Schaam feſſelt das meinige am Boden, weil
ich euch Aergerniß gab, weil ich verdient habe,
daß man einen Muͤhlſtein an meinen Hals haͤnge,
und mich im Meere verſenkte, wo es am tiefſten
iſt. Oft, liebe Hausvaͤter und Muͤtter, habe ich
eure wenige Wachſamkeit, mit welcher ihr eure
Kinder erzogt, in heftigen Worten getadelt, jetzt
muß ich mich dieſes Verbrechens bei euch ankla-
gen, muß ausrufen: Schaͤndlicher Vater! du
haſt's geduldet, als deine Tochter buhlte, du
haſt ruhig geſchlafen, als ſie deinen und ihren
Ruf entehrte, als ſie dem Volke Aergerniß gab!
Dir wird es ſchwer werden, deine Nachlaͤſſigkeit
vor Gottes Throne zu verantworten, du kannſt
nun nicht mehr freudig vor ihn hintreten und
ſagen: Herr, hier bin ich, und diejenigen, die
du mir gegeben haſt! Oft, liebe Jungfrauen und
Juͤnglinge, habe ich euch ermahnt, auf dem Pfa-
de der Ehre und Tugend zu wandeln! Oft habe
ich in ſtrengen Worten eure unſchuldigen Luſtbar-
keiten getadelt, ſie im heiligen Eifer den Reiz zur
Suͤnde, den Anfang des Laſters genannt: jetzt
muß ich ſchweigen, denn der Blick auf mein ge-
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Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796/88>, abgerufen am 23.07.2024.
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