Bericht erstatten müsse, und dieses leicht auf Ent- setzung vom Dienste entscheiden könne. Der näch- ste Postbote brachte diesen Schreckensbrief mit. Lottchen harrte seiner beim alten Schulmeister; Wilhelm hatte schon drei Wochen nicht geschrie- ben, sein Regiment zog nach der Oder gegen die Russen, sie hofte so sehnlich auf Trost und Nach- richt von ihm, erhielt abermals keine, und eilte nach Hause, um in ihrem Kämmerlein ungestört weinen zu können. Ihr Jammer war durch einen Zufall noch um ein großes vermehrt worden, zwei Bauernweiber waren ihr auf dem Heimwege be- gegnet, hatten sie nicht Jungfer Lottchen, nur schlechtweg Lottchen gegrüßt, und sich mit höhni- schem Lächeln nach ihrem Wohlbefinden erkundigt. Die Ueberzeugung, daß man ihren unglücklichen Zustand schon muthmaße, bald im ganzen Dorfe mit Gewißheit davon sprechen werde, verursachte ihr tödtliches Schrecken, sie lag eben auf ihren Knien, und flehte Gottes Beistand an, als eine Magd ihr meldete, daß der Vater sie eilend zu sprechen verlange. Sie trocknete ihre Augen, und eilte zu ihm hinab. Der arme Alte saß in seinem Großvaterstuhl, in seiner herabgesunkenen Rechten hielt er einen offnen Brief, mit seiner Linken unterstützte er auf seiner Nase die Brille, welche sein zitterndes Haupt herabzuschütteln droh- te. Er blickte starr nach seiner Tochter, und fieng endlich laut zu schluchzen an.
Bericht erſtatten muͤſſe, und dieſes leicht auf Ent- ſetzung vom Dienſte entſcheiden koͤnne. Der naͤch- ſte Poſtbote brachte dieſen Schreckensbrief mit. Lottchen harrte ſeiner beim alten Schulmeiſter; Wilhelm hatte ſchon drei Wochen nicht geſchrie- ben, ſein Regiment zog nach der Oder gegen die Ruſſen, ſie hofte ſo ſehnlich auf Troſt und Nach- richt von ihm, erhielt abermals keine, und eilte nach Hauſe, um in ihrem Kaͤmmerlein ungeſtoͤrt weinen zu koͤnnen. Ihr Jammer war durch einen Zufall noch um ein großes vermehrt worden, zwei Bauernweiber waren ihr auf dem Heimwege be- gegnet, hatten ſie nicht Jungfer Lottchen, nur ſchlechtweg Lottchen gegruͤßt, und ſich mit hoͤhni- ſchem Laͤcheln nach ihrem Wohlbefinden erkundigt. Die Ueberzeugung, daß man ihren ungluͤcklichen Zuſtand ſchon muthmaße, bald im ganzen Dorfe mit Gewißheit davon ſprechen werde, verurſachte ihr toͤdtliches Schrecken, ſie lag eben auf ihren Knien, und flehte Gottes Beiſtand an, als eine Magd ihr meldete, daß der Vater ſie eilend zu ſprechen verlange. Sie trocknete ihre Augen, und eilte zu ihm hinab. Der arme Alte ſaß in ſeinem Großvaterſtuhl, in ſeiner herabgeſunkenen Rechten hielt er einen offnen Brief, mit ſeiner Linken unterſtuͤtzte er auf ſeiner Naſe die Brille, welche ſein zitterndes Haupt herabzuſchuͤtteln droh- te. Er blickte ſtarr nach ſeiner Tochter, und fieng endlich laut zu ſchluchzen an.
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Bericht erſtatten muͤſſe, und dieſes leicht auf Ent-
ſetzung vom Dienſte entſcheiden koͤnne. Der naͤch-
ſte Poſtbote brachte dieſen Schreckensbrief mit.
Lottchen harrte ſeiner beim alten Schulmeiſter;
Wilhelm hatte ſchon drei Wochen nicht geſchrie-
ben, ſein Regiment zog nach der Oder gegen die
Ruſſen, ſie hofte ſo ſehnlich auf Troſt und Nach-
richt von ihm, erhielt abermals keine, und eilte
nach Hauſe, um in ihrem Kaͤmmerlein ungeſtoͤrt
weinen zu koͤnnen. Ihr Jammer war durch einen
Zufall noch um ein großes vermehrt worden, zwei
Bauernweiber waren ihr auf dem Heimwege be-
gegnet, hatten ſie nicht Jungfer Lottchen, nur
ſchlechtweg Lottchen gegruͤßt, und ſich mit hoͤhni-
ſchem Laͤcheln nach ihrem Wohlbefinden erkundigt.
Die Ueberzeugung, daß man ihren ungluͤcklichen
Zuſtand ſchon muthmaße, bald im ganzen Dorfe
mit Gewißheit davon ſprechen werde, verurſachte
ihr toͤdtliches Schrecken, ſie lag eben auf ihren
Knien, und flehte Gottes Beiſtand an, als eine
Magd ihr meldete, daß der Vater ſie eilend zu
ſprechen verlange. Sie trocknete ihre Augen,
und eilte zu ihm hinab. Der arme Alte ſaß in
ſeinem Großvaterſtuhl, in ſeiner herabgeſunkenen
Rechten hielt er einen offnen Brief, mit ſeiner
Linken unterſtuͤtzte er auf ſeiner Naſe die Brille,
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Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796/84>, abgerufen am 23.07.2024.
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