te, mit jedem Abende sich bestätigte, und nach und nach zur schrecklichen Gewißheit wuchs, diese Vermuthung raubte ihr Stärke und Muth, Trost und Hofnung, führte sie oft an den Abgrund der Verzweiflung, und weckte selbst mörderische Ge- danken in ihr. Von beiden retteten sie bisher im- mer noch die Briefe des heißgeliebten Wilhelms, die sie oft jede Woche erhielt, und eben so fleißig beantwortete. Er schrieb so zärtlich, er nahm so innigen Antheil an ihren Leiden, er wälzte die ganze Schuld des Verbrechens auf sich; aber er flehte auch so rührend um Vergebung, daß die Leidende sie ihm nie versagen konnte, und um seinetwillen noch länger zu dulden beschloß.
Lottchen suchte indeß ihren Zustand vor aller Augen auf's sorgfältigste zu verbergen, sie hatte nicht Muth genug, ihn irgend jemanden zu ent- decken. Das Gefühl der Schaam, der Schande war zu groß, es bekämpfte den Vorsatz, welchen sie oft deswegen faßte, und er unterblieb. Oft, wenn der alte Vater sie mitleidig anlächelte, und wegen ihrer bleichen Wangen theilnehmend nach ihrem Befinden fragte, wollte sie sich ihm zu Fü- sen werfen, alles bekennen und um Mitleid fle- hen, aber die Vorstellung seines Jammers schreck- te sie stets zurück. Ihre jetzt mehr als je beschäf- tigte Einbildungskraft zeigte ihr den Zustand des Leidenden Alten im Bilde, sie sah ihn, voll Entse-
E 2
te, mit jedem Abende ſich beſtaͤtigte, und nach und nach zur ſchrecklichen Gewißheit wuchs, dieſe Vermuthung raubte ihr Staͤrke und Muth, Troſt und Hofnung, fuͤhrte ſie oft an den Abgrund der Verzweiflung, und weckte ſelbſt moͤrderiſche Ge- danken in ihr. Von beiden retteten ſie bisher im- mer noch die Briefe des heißgeliebten Wilhelms, die ſie oft jede Woche erhielt, und eben ſo fleißig beantwortete. Er ſchrieb ſo zaͤrtlich, er nahm ſo innigen Antheil an ihren Leiden, er waͤlzte die ganze Schuld des Verbrechens auf ſich; aber er flehte auch ſo ruͤhrend um Vergebung, daß die Leidende ſie ihm nie verſagen konnte, und um ſeinetwillen noch laͤnger zu dulden beſchloß.
Lottchen ſuchte indeß ihren Zuſtand vor aller Augen auf's ſorgfaͤltigſte zu verbergen, ſie hatte nicht Muth genug, ihn irgend jemanden zu ent- decken. Das Gefuͤhl der Schaam, der Schande war zu groß, es bekaͤmpfte den Vorſatz, welchen ſie oft deswegen faßte, und er unterblieb. Oft, wenn der alte Vater ſie mitleidig anlaͤchelte, und wegen ihrer bleichen Wangen theilnehmend nach ihrem Befinden fragte, wollte ſie ſich ihm zu Fuͤ- ſen werfen, alles bekennen und um Mitleid fle- hen, aber die Vorſtellung ſeines Jammers ſchreck- te ſie ſtets zuruͤck. Ihre jetzt mehr als je beſchaͤf- tigte Einbildungskraft zeigte ihr den Zuſtand des Leidenden Alten im Bilde, ſie ſah ihn, voll Entſe-
E 2
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0081"n="67"/>
te, mit jedem Abende ſich beſtaͤtigte, und nach<lb/>
und nach zur ſchrecklichen Gewißheit wuchs, dieſe<lb/>
Vermuthung raubte ihr Staͤrke und Muth, Troſt<lb/>
und Hofnung, fuͤhrte ſie oft an den Abgrund der<lb/>
Verzweiflung, und weckte ſelbſt moͤrderiſche Ge-<lb/>
danken in ihr. Von beiden retteten ſie bisher im-<lb/>
mer noch die Briefe des heißgeliebten Wilhelms,<lb/>
die ſie oft jede Woche erhielt, und eben ſo fleißig<lb/>
beantwortete. Er ſchrieb ſo zaͤrtlich, er nahm ſo<lb/>
innigen Antheil an ihren Leiden, er waͤlzte die<lb/>
ganze Schuld des Verbrechens auf ſich; aber er<lb/>
flehte auch ſo ruͤhrend um Vergebung, daß die<lb/>
Leidende ſie ihm nie verſagen konnte, und um<lb/>ſeinetwillen noch laͤnger zu dulden beſchloß.</p><lb/><p>Lottchen ſuchte indeß ihren Zuſtand vor aller<lb/>
Augen auf's ſorgfaͤltigſte zu verbergen, ſie hatte<lb/>
nicht Muth genug, ihn irgend jemanden zu ent-<lb/>
decken. Das Gefuͤhl der Schaam, der Schande<lb/>
war zu groß, es bekaͤmpfte den Vorſatz, welchen<lb/>ſie oft deswegen faßte, und er unterblieb. Oft,<lb/>
wenn der alte Vater ſie mitleidig anlaͤchelte, und<lb/>
wegen ihrer bleichen Wangen theilnehmend nach<lb/>
ihrem Befinden fragte, wollte ſie ſich ihm zu Fuͤ-<lb/>ſen werfen, alles bekennen und um Mitleid fle-<lb/>
hen, aber die Vorſtellung ſeines Jammers ſchreck-<lb/>
te ſie ſtets zuruͤck. Ihre jetzt mehr als je beſchaͤf-<lb/>
tigte Einbildungskraft zeigte ihr den Zuſtand des<lb/>
Leidenden Alten im Bilde, ſie ſah ihn, voll Entſe-<lb/><fwplace="bottom"type="sig">E 2</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[67/0081]
te, mit jedem Abende ſich beſtaͤtigte, und nach
und nach zur ſchrecklichen Gewißheit wuchs, dieſe
Vermuthung raubte ihr Staͤrke und Muth, Troſt
und Hofnung, fuͤhrte ſie oft an den Abgrund der
Verzweiflung, und weckte ſelbſt moͤrderiſche Ge-
danken in ihr. Von beiden retteten ſie bisher im-
mer noch die Briefe des heißgeliebten Wilhelms,
die ſie oft jede Woche erhielt, und eben ſo fleißig
beantwortete. Er ſchrieb ſo zaͤrtlich, er nahm ſo
innigen Antheil an ihren Leiden, er waͤlzte die
ganze Schuld des Verbrechens auf ſich; aber er
flehte auch ſo ruͤhrend um Vergebung, daß die
Leidende ſie ihm nie verſagen konnte, und um
ſeinetwillen noch laͤnger zu dulden beſchloß.
Lottchen ſuchte indeß ihren Zuſtand vor aller
Augen auf's ſorgfaͤltigſte zu verbergen, ſie hatte
nicht Muth genug, ihn irgend jemanden zu ent-
decken. Das Gefuͤhl der Schaam, der Schande
war zu groß, es bekaͤmpfte den Vorſatz, welchen
ſie oft deswegen faßte, und er unterblieb. Oft,
wenn der alte Vater ſie mitleidig anlaͤchelte, und
wegen ihrer bleichen Wangen theilnehmend nach
ihrem Befinden fragte, wollte ſie ſich ihm zu Fuͤ-
ſen werfen, alles bekennen und um Mitleid fle-
hen, aber die Vorſtellung ſeines Jammers ſchreck-
te ſie ſtets zuruͤck. Ihre jetzt mehr als je beſchaͤf-
tigte Einbildungskraft zeigte ihr den Zuſtand des
Leidenden Alten im Bilde, ſie ſah ihn, voll Entſe-
E 2
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796, S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796/81>, abgerufen am 23.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.