Mühe, ihre Thränen zu verbergen, der Vater sahs, aber da Erinnerung an den guten Wilhelm sein Auge selbst trübte, so verdachte er's der Toch- ter um so weniger, weil er überzeugt war, daß die jungen Leute sich gerne gesehen hatten, und er wirklich nichts würde entgegen gehabt haben, wenn Wilhelm ohne Soldatenrock mit einer Aus- sicht zu einem Dienste um seiner Tochter Hand geworben hätte. Das war aber auch alles, was sich der gute Alte dachte, sein Herz, das des jungen Mädchens Empfindung nach seinem kalten Gefühle maß, ahndete keine stärkere, viel weni- ger strafbare Vertraulichkeit. Er hatte seine Kin- der in Gottesfurcht erzogen, war von ihrem rei- nen, tugendhaften Lebenswandel überzeugt, und hielt Abweichung davon für unmöglich. Er war gutherzig genug, ihren Gram zu dulden, er zankte nicht, wenn sie in der Folge seine Suppe versalzte, oder sein Lieblingsgerichte, den Eier- kuchen, verbrannte. Des armen Lottchens Lage, ihr sich immer mehrendes Leiden, verdiente aber auch diese Schonung, es war schrecklich, es war der Erbarmung aller Menschen würdig. Sie hat- te zwar Stärke des Geistes genug, sich über den Abschied des innig Geliebten zu trösten, sie besaß zwar Muth, sich mit der Hofnung des glücklichen Wiedersehns zu laben, aber die marternde Ver- muthung, daß sie wirklich ein Pfand der Liebe unter ihrem Herzen trage, die in jeder Stunde der Nacht sie weckte, mit jedem Morgen sich neu-
Muͤhe, ihre Thraͤnen zu verbergen, der Vater ſahs, aber da Erinnerung an den guten Wilhelm ſein Auge ſelbſt truͤbte, ſo verdachte er's der Toch- ter um ſo weniger, weil er uͤberzeugt war, daß die jungen Leute ſich gerne geſehen hatten, und er wirklich nichts wuͤrde entgegen gehabt haben, wenn Wilhelm ohne Soldatenrock mit einer Aus- ſicht zu einem Dienſte um ſeiner Tochter Hand geworben haͤtte. Das war aber auch alles, was ſich der gute Alte dachte, ſein Herz, das des jungen Maͤdchens Empfindung nach ſeinem kalten Gefuͤhle maß, ahndete keine ſtaͤrkere, viel weni- ger ſtrafbare Vertraulichkeit. Er hatte ſeine Kin- der in Gottesfurcht erzogen, war von ihrem rei- nen, tugendhaften Lebenswandel uͤberzeugt, und hielt Abweichung davon fuͤr unmoͤglich. Er war gutherzig genug, ihren Gram zu dulden, er zankte nicht, wenn ſie in der Folge ſeine Suppe verſalzte, oder ſein Lieblingsgerichte, den Eier- kuchen, verbrannte. Des armen Lottchens Lage, ihr ſich immer mehrendes Leiden, verdiente aber auch dieſe Schonung, es war ſchrecklich, es war der Erbarmung aller Menſchen wuͤrdig. Sie hat- te zwar Staͤrke des Geiſtes genug, ſich uͤber den Abſchied des innig Geliebten zu troͤſten, ſie beſaß zwar Muth, ſich mit der Hofnung des gluͤcklichen Wiederſehns zu laben, aber die marternde Ver- muthung, daß ſie wirklich ein Pfand der Liebe unter ihrem Herzen trage, die in jeder Stunde der Nacht ſie weckte, mit jedem Morgen ſich neu-
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Muͤhe, ihre Thraͤnen zu verbergen, der Vater
ſahs, aber da Erinnerung an den guten Wilhelm
ſein Auge ſelbſt truͤbte, ſo verdachte er's der Toch-
ter um ſo weniger, weil er uͤberzeugt war, daß
die jungen Leute ſich gerne geſehen hatten, und
er wirklich nichts wuͤrde entgegen gehabt haben,
wenn Wilhelm ohne Soldatenrock mit einer Aus-
ſicht zu einem Dienſte um ſeiner Tochter Hand
geworben haͤtte. Das war aber auch alles, was
ſich der gute Alte dachte, ſein Herz, das des
jungen Maͤdchens Empfindung nach ſeinem kalten
Gefuͤhle maß, ahndete keine ſtaͤrkere, viel weni-
ger ſtrafbare Vertraulichkeit. Er hatte ſeine Kin-
der in Gottesfurcht erzogen, war von ihrem rei-
nen, tugendhaften Lebenswandel uͤberzeugt, und
hielt Abweichung davon fuͤr unmoͤglich. Er war
gutherzig genug, ihren Gram zu dulden, er
zankte nicht, wenn ſie in der Folge ſeine Suppe
verſalzte, oder ſein Lieblingsgerichte, den Eier-
kuchen, verbrannte. Des armen Lottchens Lage,
ihr ſich immer mehrendes Leiden, verdiente aber
auch dieſe Schonung, es war ſchrecklich, es war
der Erbarmung aller Menſchen wuͤrdig. Sie hat-
te zwar Staͤrke des Geiſtes genug, ſich uͤber den
Abſchied des innig Geliebten zu troͤſten, ſie beſaß
zwar Muth, ſich mit der Hofnung des gluͤcklichen
Wiederſehns zu laben, aber die marternde Ver-
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unter ihrem Herzen trage, die in jeder Stunde
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Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796/80>, abgerufen am 23.07.2024.
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