gen Früchte ungestört genießen. Kalte gefühllose Seelen, deren feuchtes Pflegma jede Leidenschafts- flamme sogleich löscht, kann's wundern, daß diese geheimen Zusammenkünfte bald strafbar wurden; mich wundert's, daß die Liebenden einen langen Monat kämpften, und nicht früher unterlagen. Umstände und Gelegenheit verleiten oft den redli- chen Mann zu Verbrechen, die des Hochgerichts würdig sind. Zeit und Gelegenheit rauben dem liebenden Mädchen allemal ihren größten Schatz, die nur einmal blühende Unschuld, mit welcher ih- re stolze Nachbarinn sich deswegen nur noch brü- sten kann, weil ihr nicht gleiche Gelegenheit wur- de. Vater! Mutter! Dein ist die Pflicht, die fühlende Tochter vor dieser zu warnen, vor dieser zu schützen; hast du diese vernachläßigt, so ist dein die Schuld ihres Falles, so kann die Unglück- liche von dir mit vollem Rechte, Mitleid, Trost und Hülfe fordern, denn ihr Unglück war dein Werk, ihre Thränen klagen dich bei Gott an, und träufeln in deine Sündenschaale.
Lottchen und Wilhelm liebten sich äußerst zärt- lich, aber sie bangten auch oft vor der fürchterli- chen Zukunft, vor der wahrscheinlichen schreckli- chen Trennung. Die Friedensgerüchte, welche sich diesen Winter hindurch immer mehr und mehr verbreiteten, durch alle Zeitungen bestätigt wur- den, belebten ihr Herz mit Hofnung, beschleunig- ten aber auch eben so wahrscheinlich den Fall des
gen Fruͤchte ungeſtoͤrt genießen. Kalte gefuͤhlloſe Seelen, deren feuchtes Pflegma jede Leidenſchafts- flamme ſogleich loͤſcht, kann's wundern, daß dieſe geheimen Zuſammenkuͤnfte bald ſtrafbar wurden; mich wundert's, daß die Liebenden einen langen Monat kaͤmpften, und nicht fruͤher unterlagen. Umſtaͤnde und Gelegenheit verleiten oft den redli- chen Mann zu Verbrechen, die des Hochgerichts wuͤrdig ſind. Zeit und Gelegenheit rauben dem liebenden Maͤdchen allemal ihren groͤßten Schatz, die nur einmal bluͤhende Unſchuld, mit welcher ih- re ſtolze Nachbarinn ſich deswegen nur noch bruͤ- ſten kann, weil ihr nicht gleiche Gelegenheit wur- de. Vater! Mutter! Dein iſt die Pflicht, die fuͤhlende Tochter vor dieſer zu warnen, vor dieſer zu ſchuͤtzen; haſt du dieſe vernachlaͤßigt, ſo iſt dein die Schuld ihres Falles, ſo kann die Ungluͤck- liche von dir mit vollem Rechte, Mitleid, Troſt und Huͤlfe fordern, denn ihr Ungluͤck war dein Werk, ihre Thraͤnen klagen dich bei Gott an, und traͤufeln in deine Suͤndenſchaale.
Lottchen und Wilhelm liebten ſich aͤußerſt zaͤrt- lich, aber ſie bangten auch oft vor der fuͤrchterli- chen Zukunft, vor der wahrſcheinlichen ſchreckli- chen Trennung. Die Friedensgeruͤchte, welche ſich dieſen Winter hindurch immer mehr und mehr verbreiteten, durch alle Zeitungen beſtaͤtigt wur- den, belebten ihr Herz mit Hofnung, beſchleunig- ten aber auch eben ſo wahrſcheinlich den Fall des
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gen Fruͤchte ungeſtoͤrt genießen. Kalte gefuͤhlloſe
Seelen, deren feuchtes Pflegma jede Leidenſchafts-
flamme ſogleich loͤſcht, kann's wundern, daß dieſe
geheimen Zuſammenkuͤnfte bald ſtrafbar wurden;
mich wundert's, daß die Liebenden einen langen
Monat kaͤmpften, und nicht fruͤher unterlagen.
Umſtaͤnde und Gelegenheit verleiten oft den redli-
chen Mann zu Verbrechen, die des Hochgerichts
wuͤrdig ſind. Zeit und Gelegenheit rauben dem
liebenden Maͤdchen allemal ihren groͤßten Schatz,
die nur einmal bluͤhende Unſchuld, mit welcher ih-
re ſtolze Nachbarinn ſich deswegen nur noch bruͤ-
ſten kann, weil ihr nicht gleiche Gelegenheit wur-
de. Vater! Mutter! Dein iſt die Pflicht, die
fuͤhlende Tochter vor dieſer zu warnen, vor dieſer
zu ſchuͤtzen; haſt du dieſe vernachlaͤßigt, ſo iſt
dein die Schuld ihres Falles, ſo kann die Ungluͤck-
liche von dir mit vollem Rechte, Mitleid, Troſt
und Huͤlfe fordern, denn ihr Ungluͤck war dein
Werk, ihre Thraͤnen klagen dich bei Gott an, und
traͤufeln in deine Suͤndenſchaale.
Lottchen und Wilhelm liebten ſich aͤußerſt zaͤrt-
lich, aber ſie bangten auch oft vor der fuͤrchterli-
chen Zukunft, vor der wahrſcheinlichen ſchreckli-
chen Trennung. Die Friedensgeruͤchte, welche
ſich dieſen Winter hindurch immer mehr und mehr
verbreiteten, durch alle Zeitungen beſtaͤtigt wur-
den, belebten ihr Herz mit Hofnung, beſchleunig-
ten aber auch eben ſo wahrſcheinlich den Fall des
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Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796/75>, abgerufen am 23.07.2024.
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