Ich. Durch welchen Zufall ist sie denn wahn- sinnig geworden?
Die Alte. Es kamen allerhand Umstände zusammen. Anfangs war sie nur traurig und tief- sinnig, hernach fieng sie an irre zu reden, und so blieb's! (zu ihrer Tochter, welche sich eben aufrichtete) Käthe! Käthe! Wollen wir nicht nach Hause gehen?
Kätchen. Ja, liebe Mutter, ja! (sie kam zu uns herab, schien aber noch im- mer zu beten).
Die Alte. (zu ihr) Siehst du nicht, daß ein fremder Herr hier steht? (sie grüßte mich freundlich) Du bist sehr erhitzt! (ihr den Schweiß abwischend) Ruhe ein wenig aus, dann wollen wir wieder gehen.
Kätchen. (mit zufriedner Miene) Ich habe recht fleißig gebetet.
Die Alte. Daran fehlt's nie, wenn du nur auch arbeiten wolltest.
Das arme, gute Kätchen schien diesen Vor- wurf nicht zu hören, sie genoß mit zufriedner Miene die Früchte ihres Gebetes im Stillen, und setzte sich ruhig der Mutter zur Seite. Ich hatte jetzt volle Gelegenheit, sie genau zu betrach- ten. Ihr Gesicht war würklich schön, ihre wohl- geformte Habichtsnase, ihr kleiner Mund, das große, schmachtende Auge erhob es weit über das Alltägliche! Wenn sie still vor sich hinblickte, da
Ich. Durch welchen Zufall iſt ſie denn wahn- ſinnig geworden?
Die Alte. Es kamen allerhand Umſtaͤnde zuſammen. Anfangs war ſie nur traurig und tief- ſinnig, hernach fieng ſie an irre zu reden, und ſo blieb's! (zu ihrer Tochter, welche ſich eben aufrichtete) Kaͤthe! Kaͤthe! Wollen wir nicht nach Hauſe gehen?
Kaͤtchen. Ja, liebe Mutter, ja! (ſie kam zu uns herab, ſchien aber noch im- mer zu beten).
Die Alte. (zu ihr) Siehſt du nicht, daß ein fremder Herr hier ſteht? (ſie gruͤßte mich freundlich) Du biſt ſehr erhitzt! (ihr den Schweiß abwiſchend) Ruhe ein wenig aus, dann wollen wir wieder gehen.
Kaͤtchen. (mit zufriedner Miene) Ich habe recht fleißig gebetet.
Die Alte. Daran fehlt's nie, wenn du nur auch arbeiten wollteſt.
Das arme, gute Kaͤtchen ſchien dieſen Vor- wurf nicht zu hoͤren, ſie genoß mit zufriedner Miene die Fruͤchte ihres Gebetes im Stillen, und ſetzte ſich ruhig der Mutter zur Seite. Ich hatte jetzt volle Gelegenheit, ſie genau zu betrach- ten. Ihr Geſicht war wuͤrklich ſchoͤn, ihre wohl- geformte Habichtsnaſe, ihr kleiner Mund, das große, ſchmachtende Auge erhob es weit uͤber das Alltaͤgliche! Wenn ſie ſtill vor ſich hinblickte, da
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Ich. Durch welchen Zufall iſt ſie denn wahn-
ſinnig geworden?
Die Alte. Es kamen allerhand Umſtaͤnde
zuſammen. Anfangs war ſie nur traurig und tief-
ſinnig, hernach fieng ſie an irre zu reden, und
ſo blieb's! (zu ihrer Tochter, welche ſich
eben aufrichtete) Kaͤthe! Kaͤthe! Wollen
wir nicht nach Hauſe gehen?
Kaͤtchen. Ja, liebe Mutter, ja! (ſie
kam zu uns herab, ſchien aber noch im-
mer zu beten).
Die Alte. (zu ihr) Siehſt du nicht,
daß ein fremder Herr hier ſteht? (ſie gruͤßte
mich freundlich) Du biſt ſehr erhitzt! (ihr
den Schweiß abwiſchend) Ruhe ein wenig
aus, dann wollen wir wieder gehen.
Kaͤtchen. (mit zufriedner Miene)
Ich habe recht fleißig gebetet.
Die Alte. Daran fehlt's nie, wenn du nur
auch arbeiten wollteſt.
Das arme, gute Kaͤtchen ſchien dieſen Vor-
wurf nicht zu hoͤren, ſie genoß mit zufriedner
Miene die Fruͤchte ihres Gebetes im Stillen,
und ſetzte ſich ruhig der Mutter zur Seite. Ich
hatte jetzt volle Gelegenheit, ſie genau zu betrach-
ten. Ihr Geſicht war wuͤrklich ſchoͤn, ihre wohl-
geformte Habichtsnaſe, ihr kleiner Mund, das
große, ſchmachtende Auge erhob es weit uͤber das
Alltaͤgliche! Wenn ſie ſtill vor ſich hinblickte, da
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Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796/27>, abgerufen am 16.02.2025.
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