Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796.den Sängern umher zu spähen, ich horchte von den Saͤngern umher zu ſpaͤhen, ich horchte von <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0021" n="7"/> den Saͤngern umher zu ſpaͤhen, ich horchte von<lb/> neuem, und hoͤrte nun deutlich, daß der Geſang<lb/> ſich immer naͤhere. Es waren zwei weibliche<lb/> Stimmen, ein reiner Discant, begleitet von ei-<lb/> nem ſehr wohlklingenden Alte. Sie ſangen aus-<lb/> drucksvoll und mit einem Gefuͤhle von Andacht,<lb/> welches ſich nicht beſchreiben laͤßt; da ich oft den<lb/> Namen der Mutter Gottes in dieſem Liede nen-<lb/> nen hoͤrte; ſo ſchloß ich, daß es fromme Pilgrin-<lb/> nen waͤren, welche nach irgend einer Kirche wall-<lb/> fahrteten. Der angenehme Ton lockte mich maͤch-<lb/> tig, ich wollte eben folgen, als ich die beiden<lb/> Saͤngerinnen gerade auf mich zu kommen ſah, ſie<lb/> ſangen noch immer, ich wollte ſie nicht ſtoͤren,<lb/> und trat abſeits. Der Nebel umfloß ſie nicht<lb/> mehr, die Strahlen der Sonne beleuchteten ſie<lb/> hell. Voran gieng im langſamen, feierlichen<lb/> Gange ein junges, huͤbſches Maͤdchen. Ihr gro-<lb/> ſes, ſchwarzes Auge ſtarrte gen Himmel, ihre<lb/> Haͤnde waren zu ihm empor gefaltet, in ihrem<lb/> Geſichte gluͤhte feurige Andacht, die mir an<lb/> Schwaͤrmerei zu grenzen ſchien, weil ſich oft die<lb/> ſanften Zuͤge ihres ſo ſchoͤnen Geſichtes unregel-<lb/> maͤßig verzogen. Ihr folgte ein kleines Muͤtter-<lb/> chen, das vom Alter tief gebuͤckt war, es ſtrickte<lb/> fleißig an einem Strumpfe, und ſchien ohne be-<lb/> ſondere Theilnahme mit zu ſingen. Das Maͤdchen<lb/> ſtand jetzt mitten unter den Grabhuͤgeln, ſein<lb/> Gefuͤhl erhob ſich, ſeine Andacht verdoppelte ſich,<lb/> ſie ſchwieg gedraͤngt von innerer Empfindung<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [7/0021]
den Saͤngern umher zu ſpaͤhen, ich horchte von
neuem, und hoͤrte nun deutlich, daß der Geſang
ſich immer naͤhere. Es waren zwei weibliche
Stimmen, ein reiner Discant, begleitet von ei-
nem ſehr wohlklingenden Alte. Sie ſangen aus-
drucksvoll und mit einem Gefuͤhle von Andacht,
welches ſich nicht beſchreiben laͤßt; da ich oft den
Namen der Mutter Gottes in dieſem Liede nen-
nen hoͤrte; ſo ſchloß ich, daß es fromme Pilgrin-
nen waͤren, welche nach irgend einer Kirche wall-
fahrteten. Der angenehme Ton lockte mich maͤch-
tig, ich wollte eben folgen, als ich die beiden
Saͤngerinnen gerade auf mich zu kommen ſah, ſie
ſangen noch immer, ich wollte ſie nicht ſtoͤren,
und trat abſeits. Der Nebel umfloß ſie nicht
mehr, die Strahlen der Sonne beleuchteten ſie
hell. Voran gieng im langſamen, feierlichen
Gange ein junges, huͤbſches Maͤdchen. Ihr gro-
ſes, ſchwarzes Auge ſtarrte gen Himmel, ihre
Haͤnde waren zu ihm empor gefaltet, in ihrem
Geſichte gluͤhte feurige Andacht, die mir an
Schwaͤrmerei zu grenzen ſchien, weil ſich oft die
ſanften Zuͤge ihres ſo ſchoͤnen Geſichtes unregel-
maͤßig verzogen. Ihr folgte ein kleines Muͤtter-
chen, das vom Alter tief gebuͤckt war, es ſtrickte
fleißig an einem Strumpfe, und ſchien ohne be-
ſondere Theilnahme mit zu ſingen. Das Maͤdchen
ſtand jetzt mitten unter den Grabhuͤgeln, ſein
Gefuͤhl erhob ſich, ſeine Andacht verdoppelte ſich,
ſie ſchwieg gedraͤngt von innerer Empfindung
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