mein Herz, daß diese Hügel wahrscheinlich die Gräber wären, in welchen die Opfer der Gerech- tigkeit, die ihr an dieser Stätte gebracht wurden, ruhten. O ihr Armen! dachte ich jetzt, euch ist wohl; aber weh, weh war euch's gewiß damals, als ihr, umgeben von der gaffenden Menge, eu- ren Todeskampf kämpftet; zum letztenmale in der weiten Natur umher blicktet, und dann hinge- schleppt wurdet, um unter der Hand des Henkers euer Leben zu enden! Vielleicht blutete manch- mal die verfolgte Unschuld an dieser Stätte! Vielleicht flehte sie hier oft vergebens um Rettung und Hülfe, und starb verzweifelnd! -- -- Kalter Schauer ergriff mich, ich sprang auf, und wan- delte unter den Gräbern umher. Ich gieng an den langen und großen Hügeln kalt vorüber, weil mein Gefühl hier die Ruhestätte der Räuber und Mörder vermuthete, ich weilte gerührt an den kürzern und kleinern, weil ich muthmaßte, daß hier diejenigen schliefen, welche das Schwert gerichtet hatte. Der Gedanke, daß unter diesen sich auch Kindermörderinnen befänden, ergriff mein Herz, und engte es mächtig. Ich sah die schuldlose Dirne unbefleckt und rein im einsamen Thale lustwandeln, ihr Verführer, ein abgefeim- ter Wohllüstling, schlich hinter ihr her, rührte ihr offnes Herz, raubte ihre Unschuld, und eilte frohlockend von dannen. Meine Einbildungskraft überhüpfte einen Zeitraum von neun Monden, ich erblickte die nämliche Dirne wieder in ihrer
mein Herz, daß dieſe Huͤgel wahrſcheinlich die Graͤber waͤren, in welchen die Opfer der Gerech- tigkeit, die ihr an dieſer Staͤtte gebracht wurden, ruhten. O ihr Armen! dachte ich jetzt, euch iſt wohl; aber weh, weh war euch's gewiß damals, als ihr, umgeben von der gaffenden Menge, eu- ren Todeskampf kaͤmpftet; zum letztenmale in der weiten Natur umher blicktet, und dann hinge- ſchleppt wurdet, um unter der Hand des Henkers euer Leben zu enden! Vielleicht blutete manch- mal die verfolgte Unſchuld an dieſer Staͤtte! Vielleicht flehte ſie hier oft vergebens um Rettung und Huͤlfe, und ſtarb verzweifelnd! — — Kalter Schauer ergriff mich, ich ſprang auf, und wan- delte unter den Graͤbern umher. Ich gieng an den langen und großen Huͤgeln kalt voruͤber, weil mein Gefuͤhl hier die Ruheſtaͤtte der Raͤuber und Moͤrder vermuthete, ich weilte geruͤhrt an den kuͤrzern und kleinern, weil ich muthmaßte, daß hier diejenigen ſchliefen, welche das Schwert gerichtet hatte. Der Gedanke, daß unter dieſen ſich auch Kindermoͤrderinnen befaͤnden, ergriff mein Herz, und engte es maͤchtig. Ich ſah die ſchuldloſe Dirne unbefleckt und rein im einſamen Thale luſtwandeln, ihr Verfuͤhrer, ein abgefeim- ter Wohlluͤſtling, ſchlich hinter ihr her, ruͤhrte ihr offnes Herz, raubte ihre Unſchuld, und eilte frohlockend von dannen. Meine Einbildungskraft uͤberhuͤpfte einen Zeitraum von neun Monden, ich erblickte die naͤmliche Dirne wieder in ihrer
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0019"n="5"/>
mein Herz, daß dieſe Huͤgel wahrſcheinlich die<lb/>
Graͤber waͤren, in welchen die Opfer der Gerech-<lb/>
tigkeit, die ihr an dieſer Staͤtte gebracht wurden,<lb/>
ruhten. O ihr Armen! dachte ich jetzt, euch iſt<lb/>
wohl; aber weh, weh war euch's gewiß damals,<lb/>
als ihr, umgeben von der gaffenden Menge, eu-<lb/>
ren Todeskampf kaͤmpftet; zum letztenmale in der<lb/>
weiten Natur umher blicktet, und dann hinge-<lb/>ſchleppt wurdet, um unter der Hand des Henkers<lb/>
euer Leben zu enden! Vielleicht blutete manch-<lb/>
mal die verfolgte Unſchuld an dieſer Staͤtte!<lb/>
Vielleicht flehte ſie hier oft vergebens um Rettung<lb/>
und Huͤlfe, und ſtarb verzweifelnd! —— Kalter<lb/>
Schauer ergriff mich, ich ſprang auf, und wan-<lb/>
delte unter den Graͤbern umher. Ich gieng an<lb/>
den langen und großen Huͤgeln kalt voruͤber,<lb/>
weil mein Gefuͤhl hier die Ruheſtaͤtte der Raͤuber<lb/>
und Moͤrder vermuthete, ich weilte geruͤhrt an<lb/>
den kuͤrzern und kleinern, weil ich muthmaßte,<lb/>
daß hier diejenigen ſchliefen, welche das Schwert<lb/>
gerichtet hatte. Der Gedanke, daß unter dieſen<lb/>ſich auch Kindermoͤrderinnen befaͤnden, ergriff<lb/>
mein Herz, und engte es maͤchtig. Ich ſah die<lb/>ſchuldloſe Dirne unbefleckt und rein im einſamen<lb/>
Thale luſtwandeln, ihr Verfuͤhrer, ein abgefeim-<lb/>
ter Wohlluͤſtling, ſchlich hinter ihr her, ruͤhrte<lb/>
ihr offnes Herz, raubte ihre Unſchuld, und eilte<lb/>
frohlockend von dannen. Meine Einbildungskraft<lb/>
uͤberhuͤpfte einen Zeitraum von neun Monden,<lb/>
ich erblickte die naͤmliche Dirne wieder in ihrer<lb/></p></div></body></text></TEI>
[5/0019]
mein Herz, daß dieſe Huͤgel wahrſcheinlich die
Graͤber waͤren, in welchen die Opfer der Gerech-
tigkeit, die ihr an dieſer Staͤtte gebracht wurden,
ruhten. O ihr Armen! dachte ich jetzt, euch iſt
wohl; aber weh, weh war euch's gewiß damals,
als ihr, umgeben von der gaffenden Menge, eu-
ren Todeskampf kaͤmpftet; zum letztenmale in der
weiten Natur umher blicktet, und dann hinge-
ſchleppt wurdet, um unter der Hand des Henkers
euer Leben zu enden! Vielleicht blutete manch-
mal die verfolgte Unſchuld an dieſer Staͤtte!
Vielleicht flehte ſie hier oft vergebens um Rettung
und Huͤlfe, und ſtarb verzweifelnd! — — Kalter
Schauer ergriff mich, ich ſprang auf, und wan-
delte unter den Graͤbern umher. Ich gieng an
den langen und großen Huͤgeln kalt voruͤber,
weil mein Gefuͤhl hier die Ruheſtaͤtte der Raͤuber
und Moͤrder vermuthete, ich weilte geruͤhrt an
den kuͤrzern und kleinern, weil ich muthmaßte,
daß hier diejenigen ſchliefen, welche das Schwert
gerichtet hatte. Der Gedanke, daß unter dieſen
ſich auch Kindermoͤrderinnen befaͤnden, ergriff
mein Herz, und engte es maͤchtig. Ich ſah die
ſchuldloſe Dirne unbefleckt und rein im einſamen
Thale luſtwandeln, ihr Verfuͤhrer, ein abgefeim-
ter Wohlluͤſtling, ſchlich hinter ihr her, ruͤhrte
ihr offnes Herz, raubte ihre Unſchuld, und eilte
frohlockend von dannen. Meine Einbildungskraft
uͤberhuͤpfte einen Zeitraum von neun Monden,
ich erblickte die naͤmliche Dirne wieder in ihrer
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796/19>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.