Einst, rief sie seufzend aus, alles, alles mein! Ich war die Glücklichste und Reichste unter den Tausenden, welche hier wohnen, jetzt bin ich die Aermste und Unglücklichste unter ihnen. (schluch- zend) Ach, das thut weh! o, das nagt schreck- lich! (zu mir) Sie staunen? O staunen Sie nur, Sie haben volles Recht dazu. Staune ich doch selbst oft, wie's geschehen konnte, und doch geschah's, so leicht, so natürlich, so zusammen- hängend, daß es mich wieder wundern würde, wenn es anders geschehen wäre. (hastig) Ha- ben Sie Eile?
Ich. Ich muß heute noch in K -- eintreffen, und dahin -- --
Die Alte. (mir einfallend) Gelangen Sie früh genug, wenn Sie mir auch eine halbe Stunde schenken. Ich will Ihnen die Geschichte meiner Leiden offen und treu erzählen. -- --
Ich. Ich werde Sie mit der innigsten Theil- nahme anhören.
Die Alte. Davon bin ich überzeugt, sonst würde ich Ihnen diesen Antrag nicht gemacht ha- ben. Es thut einem so wohl, wenn man Theil- nahme im Auge liest, und aus des Freundes Munde hört: dir geschah Unrecht, dir hätte ein beßres Schicksal werden sollen! Ich bin eine ge- bohrne Baronin von B --. Dort unten rechts, in der blauen Ferne ragen über die kleine Anhöhe
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Einſt, rief ſie ſeufzend aus, alles, alles mein! Ich war die Gluͤcklichſte und Reichſte unter den Tauſenden, welche hier wohnen, jetzt bin ich die Aermſte und Ungluͤcklichſte unter ihnen. (ſchluch- zend) Ach, das thut weh! o, das nagt ſchreck- lich! (zu mir) Sie ſtaunen? O ſtaunen Sie nur, Sie haben volles Recht dazu. Staune ich doch ſelbſt oft, wie's geſchehen konnte, und doch geſchah's, ſo leicht, ſo natuͤrlich, ſo zuſammen- haͤngend, daß es mich wieder wundern wuͤrde, wenn es anders geſchehen waͤre. (haſtig) Ha- ben Sie Eile?
Ich. Ich muß heute noch in K — eintreffen, und dahin — —
Die Alte. (mir einfallend) Gelangen Sie fruͤh genug, wenn Sie mir auch eine halbe Stunde ſchenken. Ich will Ihnen die Geſchichte meiner Leiden offen und treu erzaͤhlen. — —
Ich. Ich werde Sie mit der innigſten Theil- nahme anhoͤren.
Die Alte. Davon bin ich uͤberzeugt, ſonſt wuͤrde ich Ihnen dieſen Antrag nicht gemacht ha- ben. Es thut einem ſo wohl, wenn man Theil- nahme im Auge lieſt, und aus des Freundes Munde hoͤrt: dir geſchah Unrecht, dir haͤtte ein beßres Schickſal werden ſollen! Ich bin eine ge- bohrne Baronin von B —. Dort unten rechts, in der blauen Ferne ragen uͤber die kleine Anhoͤhe
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Einſt, rief ſie ſeufzend aus, alles, alles mein!
Ich war die Gluͤcklichſte und Reichſte unter den
Tauſenden, welche hier wohnen, jetzt bin ich die
Aermſte und Ungluͤcklichſte unter ihnen. (ſchluch-
zend) Ach, das thut weh! o, das nagt ſchreck-
lich! (zu mir) Sie ſtaunen? O ſtaunen Sie
nur, Sie haben volles Recht dazu. Staune ich
doch ſelbſt oft, wie's geſchehen konnte, und doch
geſchah's, ſo leicht, ſo natuͤrlich, ſo zuſammen-
haͤngend, daß es mich wieder wundern wuͤrde,
wenn es anders geſchehen waͤre. (haſtig) Ha-
ben Sie Eile?
Ich. Ich muß heute noch in K — eintreffen,
und dahin — —
Die Alte. (mir einfallend) Gelangen
Sie fruͤh genug, wenn Sie mir auch eine halbe
Stunde ſchenken. Ich will Ihnen die Geſchichte
meiner Leiden offen und treu erzaͤhlen. — —
Ich. Ich werde Sie mit der innigſten Theil-
nahme anhoͤren.
Die Alte. Davon bin ich uͤberzeugt, ſonſt
wuͤrde ich Ihnen dieſen Antrag nicht gemacht ha-
ben. Es thut einem ſo wohl, wenn man Theil-
nahme im Auge lieſt, und aus des Freundes
Munde hoͤrt: dir geſchah Unrecht, dir haͤtte ein
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Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796, S. 163. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796/177>, abgerufen am 23.07.2024.
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