festes Sistem geworden. Ich besitze jetzt Kühn- heit genug, jeden Reisenden, jeden Bauer um ein Allmosen anzubetteln, es hat mich Mühe und un- zähliche Thränen gekostet, aber meinen Stolz ha- be ich doch nicht bekämpfen können, er weigert sich schlechterdings, von denjenigen ein Allmosen anzunehmen, deren Pflicht es wäre, mir viele Tausende als mein Eigenthum auszuzahlen.
Unter diesem Gespräche hatten wir den Gipfel des Bergs erreicht, eine schöne, angenehme und äußerst fruchtbare Gegend lag vor uns. Mehr als zehn ansehnliche Dörfer, beschattet von frucht- tragenden Bäumen, konnte man von hier aus überblicken. Die Alte hatte im eifrigen Gespräche ihren Athem verschwendet, sie blieb stehen, um neuen zu sammeln; endlich setzte sie sich nahe am Wege nieder, und staunte mit verzognem Lächeln, das mehr einer schmerzhaften Empfindung glich, in die weite Gegend hinab. Ihr Gespräch hatte mein Herz tief gerührt, ich wollte mich nicht so früh von ihr trennen, nicht ganz ohne Trost schei- den, und nahm Platz neben ihr. Sie stützte sich auf ihren Elbogen, ihr Lächeln, das mir gleich anfangs so weh that, verzog sich nach und nach in stille Wehmuth, mehr als eine Thräne schlich langsam über ihre hohlen Wangen herab, und träufelte in den Sand. Endlich hob sie ihre Rech- te empor, und bezeichnete einigemal stillschweigend damit den Umkreis der ganzen weiten Gegend.
feſtes Siſtem geworden. Ich beſitze jetzt Kuͤhn- heit genug, jeden Reiſenden, jeden Bauer um ein Allmoſen anzubetteln, es hat mich Muͤhe und un- zaͤhliche Thraͤnen gekoſtet, aber meinen Stolz ha- be ich doch nicht bekaͤmpfen koͤnnen, er weigert ſich ſchlechterdings, von denjenigen ein Allmoſen anzunehmen, deren Pflicht es waͤre, mir viele Tauſende als mein Eigenthum auszuzahlen.
Unter dieſem Geſpraͤche hatten wir den Gipfel des Bergs erreicht, eine ſchoͤne, angenehme und aͤußerſt fruchtbare Gegend lag vor uns. Mehr als zehn anſehnliche Doͤrfer, beſchattet von frucht- tragenden Baͤumen, konnte man von hier aus uͤberblicken. Die Alte hatte im eifrigen Geſpraͤche ihren Athem verſchwendet, ſie blieb ſtehen, um neuen zu ſammeln; endlich ſetzte ſie ſich nahe am Wege nieder, und ſtaunte mit verzognem Laͤcheln, das mehr einer ſchmerzhaften Empfindung glich, in die weite Gegend hinab. Ihr Geſpraͤch hatte mein Herz tief geruͤhrt, ich wollte mich nicht ſo fruͤh von ihr trennen, nicht ganz ohne Troſt ſchei- den, und nahm Platz neben ihr. Sie ſtuͤtzte ſich auf ihren Elbogen, ihr Laͤcheln, das mir gleich anfangs ſo weh that, verzog ſich nach und nach in ſtille Wehmuth, mehr als eine Thraͤne ſchlich langſam uͤber ihre hohlen Wangen herab, und traͤufelte in den Sand. Endlich hob ſie ihre Rech- te empor, und bezeichnete einigemal ſtillſchweigend damit den Umkreis der ganzen weiten Gegend.
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feſtes Siſtem geworden. Ich beſitze jetzt Kuͤhn-
heit genug, jeden Reiſenden, jeden Bauer um ein
Allmoſen anzubetteln, es hat mich Muͤhe und un-
zaͤhliche Thraͤnen gekoſtet, aber meinen Stolz ha-
be ich doch nicht bekaͤmpfen koͤnnen, er weigert
ſich ſchlechterdings, von denjenigen ein Allmoſen
anzunehmen, deren Pflicht es waͤre, mir viele
Tauſende als mein Eigenthum auszuzahlen.
Unter dieſem Geſpraͤche hatten wir den Gipfel
des Bergs erreicht, eine ſchoͤne, angenehme und
aͤußerſt fruchtbare Gegend lag vor uns. Mehr
als zehn anſehnliche Doͤrfer, beſchattet von frucht-
tragenden Baͤumen, konnte man von hier aus
uͤberblicken. Die Alte hatte im eifrigen Geſpraͤche
ihren Athem verſchwendet, ſie blieb ſtehen, um
neuen zu ſammeln; endlich ſetzte ſie ſich nahe am
Wege nieder, und ſtaunte mit verzognem Laͤcheln,
das mehr einer ſchmerzhaften Empfindung glich,
in die weite Gegend hinab. Ihr Geſpraͤch hatte
mein Herz tief geruͤhrt, ich wollte mich nicht ſo
fruͤh von ihr trennen, nicht ganz ohne Troſt ſchei-
den, und nahm Platz neben ihr. Sie ſtuͤtzte ſich
auf ihren Elbogen, ihr Laͤcheln, das mir gleich
anfangs ſo weh that, verzog ſich nach und nach
in ſtille Wehmuth, mehr als eine Thraͤne ſchlich
langſam uͤber ihre hohlen Wangen herab, und
traͤufelte in den Sand. Endlich hob ſie ihre Rech-
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Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796, S. 162. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796/176>, abgerufen am 16.02.2025.
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