Friedrich. (mit den Ketten fürch- terlich klirrend) Sie können noch fragen? Ach, das ist eben das Schrecklichste, das ist's eben, was mächtig zur Verzweiflung reizt! Ich bin unschuldig und doch gefesselt!
Bürgermeister. Menschen-Urtheil kann irren!
Friedrich. Wohl, wohl kann's irren! Er allein sieht, er allein weiß es, und rettet doch nicht.
Bürgermeister. (zum Kerkermeister) Nehmt ihm die schweren Ketten ab, damit er sanfter ruhen kann.
Friedrich. (entfesselt) Das wäre doch Linderung in meinem Leiden! zwar die erste, aber eben deswegen auch die schätzbarste. Nun kann ich ja ungehindert knien, ungehindert meine Hän- de zu Gott empor heben! (er kniet nieder) Allmächtiger, ewiger Richter, wenn du etwann nur dein Ohr zu fessellosen Geschöpfen herab neigst, nur diejenigen mit gnädigen Augen anblickst, die ohne Kettengerassel ihre Hände zu dir ausstrecken, so blicke jetzt auf mich herab, höre mich, höre mich! Erbarme dich meines armen Weibes, mei- ner unschuldigen Kinder, laß den Kelch des Lei- dens auch vor mir vorüber gehen!
Buͤrgermeiſter. Sind Sie denn wirklich unſchuldig?
Friedrich. (mit den Ketten fuͤrch- terlich klirrend) Sie koͤnnen noch fragen? Ach, das iſt eben das Schrecklichſte, das iſt's eben, was maͤchtig zur Verzweiflung reizt! Ich bin unſchuldig und doch gefeſſelt!
Buͤrgermeiſter. Menſchen-Urtheil kann irren!
Friedrich. Wohl, wohl kann's irren! Er allein ſieht, er allein weiß es, und rettet doch nicht.
Buͤrgermeiſter. (zum Kerkermeiſter) Nehmt ihm die ſchweren Ketten ab, damit er ſanfter ruhen kann.
Friedrich. (entfeſſelt) Das waͤre doch Linderung in meinem Leiden! zwar die erſte, aber eben deswegen auch die ſchaͤtzbarſte. Nun kann ich ja ungehindert knien, ungehindert meine Haͤn- de zu Gott empor heben! (er kniet nieder) Allmaͤchtiger, ewiger Richter, wenn du etwann nur dein Ohr zu feſſelloſen Geſchoͤpfen herab neigſt, nur diejenigen mit gnaͤdigen Augen anblickſt, die ohne Kettengeraſſel ihre Haͤnde zu dir ausſtrecken, ſo blicke jetzt auf mich herab, hoͤre mich, hoͤre mich! Erbarme dich meines armen Weibes, mei- ner unſchuldigen Kinder, laß den Kelch des Lei- dens auch vor mir voruͤber gehen!
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Buͤrgermeiſter. Sind Sie denn wirklich
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Friedrich. (mit den Ketten fuͤrch-
terlich klirrend) Sie koͤnnen noch fragen?
Ach, das iſt eben das Schrecklichſte, das iſt's
eben, was maͤchtig zur Verzweiflung reizt! Ich
bin unſchuldig und doch gefeſſelt!
Buͤrgermeiſter. Menſchen-Urtheil kann
irren!
Friedrich. Wohl, wohl kann's irren! Er
allein ſieht, er allein weiß es, und rettet doch
nicht.
Buͤrgermeiſter. (zum Kerkermeiſter)
Nehmt ihm die ſchweren Ketten ab, damit er
ſanfter ruhen kann.
Friedrich. (entfeſſelt) Das waͤre doch
Linderung in meinem Leiden! zwar die erſte, aber
eben deswegen auch die ſchaͤtzbarſte. Nun kann
ich ja ungehindert knien, ungehindert meine Haͤn-
de zu Gott empor heben! (er kniet nieder)
Allmaͤchtiger, ewiger Richter, wenn du etwann
nur dein Ohr zu feſſelloſen Geſchoͤpfen herab neigſt,
nur diejenigen mit gnaͤdigen Augen anblickſt, die
ohne Kettengeraſſel ihre Haͤnde zu dir ausſtrecken,
ſo blicke jetzt auf mich herab, hoͤre mich, hoͤre
mich! Erbarme dich meines armen Weibes, mei-
ner unſchuldigen Kinder, laß den Kelch des Lei-
dens auch vor mir voruͤber gehen!
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Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796, S. 141. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796/155>, abgerufen am 16.02.2025.
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