an's Dorf kam, schlug die Glocke eilfe, und vom Kirchhofe herauf kam mir eine weisse Frau entge- gen. Mir kam's Grausen an, ich wollte aus- weichen, aber ehe ich's vermochte, stund die weis- se Frau schon vor mir. Es war meine verstorbne Mutter. Schäme dich, ungerathenes Kind, sprach sie zornig, willst du mir denn nichts als Schande machen? Du hast eine Brust von Glase, jeder- mann wird deine Gedanken lesen, und deiner spot- ten. Versteck dich! Versteck dich! rief sie noch dreimal aus, und verschwand. Ich war aus Schrecken vom Wege abgewichen, und lag im tie- fen Schnee. Als ich wieder denken konnte, un- tersuchte ich sogleich meine Brust, und fand sie leider mit einem hellen Glase überzogen, ich rann- te sogleich auf und davon, kam bis auf die Alpen, und versteckte mich dort, dem Rath meiner Mut- ter zufolge, recht tief in's Heu. Wie lange ich eigentlich dort mag gelegen seyn, weiß ich selbst nicht. Anfangs war das Glas auf meiner Brust noch etwas weich, ich konnte es mit den Fingern biegen, nach und nach ward's immer härter, jetzt gleicht's an Härte und Klarheit dem reinsten Kri- stalle.
Diese deutliche Erzählung belehrte den verstän- digen Arzt, wie sich nach und nach Jakobs Wahn- sinn entwickelt und befestigt hatte. Hoffnungs- lose, wenigstens sehr gehinderte Liebe war ihr Ur- stoff, hatte ihn schon lange vorher traurig und
an's Dorf kam, ſchlug die Glocke eilfe, und vom Kirchhofe herauf kam mir eine weiſſe Frau entge- gen. Mir kam's Grauſen an, ich wollte aus- weichen, aber ehe ich's vermochte, ſtund die weiſ- ſe Frau ſchon vor mir. Es war meine verſtorbne Mutter. Schaͤme dich, ungerathenes Kind, ſprach ſie zornig, willſt du mir denn nichts als Schande machen? Du haſt eine Bruſt von Glaſe, jeder- mann wird deine Gedanken leſen, und deiner ſpot- ten. Verſteck dich! Verſteck dich! rief ſie noch dreimal aus, und verſchwand. Ich war aus Schrecken vom Wege abgewichen, und lag im tie- fen Schnee. Als ich wieder denken konnte, un- terſuchte ich ſogleich meine Bruſt, und fand ſie leider mit einem hellen Glaſe uͤberzogen, ich rann- te ſogleich auf und davon, kam bis auf die Alpen, und verſteckte mich dort, dem Rath meiner Mut- ter zufolge, recht tief in's Heu. Wie lange ich eigentlich dort mag gelegen ſeyn, weiß ich ſelbſt nicht. Anfangs war das Glas auf meiner Bruſt noch etwas weich, ich konnte es mit den Fingern biegen, nach und nach ward's immer haͤrter, jetzt gleicht's an Haͤrte und Klarheit dem reinſten Kri- ſtalle.
Dieſe deutliche Erzaͤhlung belehrte den verſtaͤn- digen Arzt, wie ſich nach und nach Jakobs Wahn- ſinn entwickelt und befeſtigt hatte. Hoffnungs- loſe, wenigſtens ſehr gehinderte Liebe war ihr Ur- ſtoff, hatte ihn ſchon lange vorher traurig und
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an's Dorf kam, ſchlug die Glocke eilfe, und vom
Kirchhofe herauf kam mir eine weiſſe Frau entge-
gen. Mir kam's Grauſen an, ich wollte aus-
weichen, aber ehe ich's vermochte, ſtund die weiſ-
ſe Frau ſchon vor mir. Es war meine verſtorbne
Mutter. Schaͤme dich, ungerathenes Kind, ſprach
ſie zornig, willſt du mir denn nichts als Schande
machen? Du haſt eine Bruſt von Glaſe, jeder-
mann wird deine Gedanken leſen, und deiner ſpot-
ten. Verſteck dich! Verſteck dich! rief ſie noch
dreimal aus, und verſchwand. Ich war aus
Schrecken vom Wege abgewichen, und lag im tie-
fen Schnee. Als ich wieder denken konnte, un-
terſuchte ich ſogleich meine Bruſt, und fand ſie
leider mit einem hellen Glaſe uͤberzogen, ich rann-
te ſogleich auf und davon, kam bis auf die Alpen,
und verſteckte mich dort, dem Rath meiner Mut-
ter zufolge, recht tief in's Heu. Wie lange ich
eigentlich dort mag gelegen ſeyn, weiß ich ſelbſt
nicht. Anfangs war das Glas auf meiner Bruſt
noch etwas weich, ich konnte es mit den Fingern
biegen, nach und nach ward's immer haͤrter, jetzt
gleicht's an Haͤrte und Klarheit dem reinſten Kri-
ſtalle.
Dieſe deutliche Erzaͤhlung belehrte den verſtaͤn-
digen Arzt, wie ſich nach und nach Jakobs Wahn-
ſinn entwickelt und befeſtigt hatte. Hoffnungs-
loſe, wenigſtens ſehr gehinderte Liebe war ihr Ur-
ſtoff, hatte ihn ſchon lange vorher traurig und
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Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796, S. 114. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796/128>, abgerufen am 23.07.2024.
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