Jahres war Wilhelm einige Tage krank, und lag sprachlos auf seinem Lager; wie es sich wieder mit ihm besserte, und der Pfarrer ihn am folgen- den Sonntag mit in die Kirche nahm, wollte er nicht über die Brücke gehen, welche über den Bach führte. Er behauptete kühn, daß er von Gott wegen Lottchens Verführung in die Hölle verur- theilt sei, und nicht den Bach überschreiten dürfe, der die Gränze zwischen dieser und dem Himmel bezeichne. Alle Beweisgründe waren fruchtlos, und der Pfarrer sah klar ein, daß Wilhelms Ver- stand nun auch verlohren sei. Er äusserte übri- gens nur in diesem einzigen Punkte Wahnsinn, in allen andern Vorfällen handelte er stets klug und vernünftig, doch sprach er, wie vorher, sehr wenig, wollte nie zu Hause weilen, und gieng immer im Freien umher. Nie überschritt er aber den Bach, welcher ihn von Lottchen trennte, er harrte ihrer dort täglich, und sie kam allemal zu ihm herab. Wenn der arme Wilhelm nachher auf seinen Wanderungen einen Dornstrauch fand, so hob er ihn stets auf, und trug ihn tagelang auf seinem Rücken. So lange ich, sprach er dann zu denjenigen, welche nach der Ursache fragten, die- sen Dorn auf meinem Rücken trage, kann sich ihn niemand in den Fuß treten, und Wunden, setzte er seufzend hinzu, thun weh, sehr weh!
Im Frühjahre, als der Schnee schmolz, und der Bach reißend und schnell durch das Dorf
Jahres war Wilhelm einige Tage krank, und lag ſprachlos auf ſeinem Lager; wie es ſich wieder mit ihm beſſerte, und der Pfarrer ihn am folgen- den Sonntag mit in die Kirche nahm, wollte er nicht uͤber die Bruͤcke gehen, welche uͤber den Bach fuͤhrte. Er behauptete kuͤhn, daß er von Gott wegen Lottchens Verfuͤhrung in die Hoͤlle verur- theilt ſei, und nicht den Bach uͤberſchreiten duͤrfe, der die Graͤnze zwiſchen dieſer und dem Himmel bezeichne. Alle Beweisgruͤnde waren fruchtlos, und der Pfarrer ſah klar ein, daß Wilhelms Ver- ſtand nun auch verlohren ſei. Er aͤuſſerte uͤbri- gens nur in dieſem einzigen Punkte Wahnſinn, in allen andern Vorfaͤllen handelte er ſtets klug und vernuͤnftig, doch ſprach er, wie vorher, ſehr wenig, wollte nie zu Hauſe weilen, und gieng immer im Freien umher. Nie uͤberſchritt er aber den Bach, welcher ihn von Lottchen trennte, er harrte ihrer dort taͤglich, und ſie kam allemal zu ihm herab. Wenn der arme Wilhelm nachher auf ſeinen Wanderungen einen Dornſtrauch fand, ſo hob er ihn ſtets auf, und trug ihn tagelang auf ſeinem Ruͤcken. So lange ich, ſprach er dann zu denjenigen, welche nach der Urſache fragten, die- ſen Dorn auf meinem Ruͤcken trage, kann ſich ihn niemand in den Fuß treten, und Wunden, ſetzte er ſeufzend hinzu, thun weh, ſehr weh!
Im Fruͤhjahre, als der Schnee ſchmolz, und der Bach reißend und ſchnell durch das Dorf
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0112"n="98"/>
Jahres war Wilhelm einige Tage krank, und lag<lb/>ſprachlos auf ſeinem Lager; wie es ſich wieder<lb/>
mit ihm beſſerte, und der Pfarrer ihn am folgen-<lb/>
den Sonntag mit in die Kirche nahm, wollte er<lb/>
nicht uͤber die Bruͤcke gehen, welche uͤber den Bach<lb/>
fuͤhrte. Er behauptete kuͤhn, daß er von Gott<lb/>
wegen Lottchens Verfuͤhrung in die Hoͤlle verur-<lb/>
theilt ſei, und nicht den Bach uͤberſchreiten duͤrfe,<lb/>
der die Graͤnze zwiſchen dieſer und dem Himmel<lb/>
bezeichne. Alle Beweisgruͤnde waren fruchtlos,<lb/>
und der Pfarrer ſah klar ein, daß Wilhelms Ver-<lb/>ſtand nun auch verlohren ſei. Er aͤuſſerte uͤbri-<lb/>
gens nur in dieſem einzigen Punkte Wahnſinn,<lb/>
in allen andern Vorfaͤllen handelte er ſtets klug<lb/>
und vernuͤnftig, doch ſprach er, wie vorher, ſehr<lb/>
wenig, wollte nie zu Hauſe weilen, und gieng<lb/>
immer im Freien umher. Nie uͤberſchritt er aber<lb/>
den Bach, welcher ihn von Lottchen trennte, er<lb/>
harrte ihrer dort taͤglich, und ſie kam allemal zu<lb/>
ihm herab. Wenn der arme Wilhelm nachher auf<lb/>ſeinen Wanderungen einen Dornſtrauch fand, ſo<lb/>
hob er ihn ſtets auf, und trug ihn tagelang auf<lb/>ſeinem Ruͤcken. So lange ich, ſprach er dann zu<lb/>
denjenigen, welche nach der Urſache fragten, die-<lb/>ſen Dorn auf meinem Ruͤcken trage, kann ſich<lb/>
ihn niemand in den Fuß treten, und Wunden,<lb/>ſetzte er ſeufzend hinzu, thun weh, ſehr weh!</p><lb/><p>Im Fruͤhjahre, als der Schnee ſchmolz, und<lb/>
der Bach reißend und ſchnell durch das Dorf<lb/></p></div></body></text></TEI>
[98/0112]
Jahres war Wilhelm einige Tage krank, und lag
ſprachlos auf ſeinem Lager; wie es ſich wieder
mit ihm beſſerte, und der Pfarrer ihn am folgen-
den Sonntag mit in die Kirche nahm, wollte er
nicht uͤber die Bruͤcke gehen, welche uͤber den Bach
fuͤhrte. Er behauptete kuͤhn, daß er von Gott
wegen Lottchens Verfuͤhrung in die Hoͤlle verur-
theilt ſei, und nicht den Bach uͤberſchreiten duͤrfe,
der die Graͤnze zwiſchen dieſer und dem Himmel
bezeichne. Alle Beweisgruͤnde waren fruchtlos,
und der Pfarrer ſah klar ein, daß Wilhelms Ver-
ſtand nun auch verlohren ſei. Er aͤuſſerte uͤbri-
gens nur in dieſem einzigen Punkte Wahnſinn,
in allen andern Vorfaͤllen handelte er ſtets klug
und vernuͤnftig, doch ſprach er, wie vorher, ſehr
wenig, wollte nie zu Hauſe weilen, und gieng
immer im Freien umher. Nie uͤberſchritt er aber
den Bach, welcher ihn von Lottchen trennte, er
harrte ihrer dort taͤglich, und ſie kam allemal zu
ihm herab. Wenn der arme Wilhelm nachher auf
ſeinen Wanderungen einen Dornſtrauch fand, ſo
hob er ihn ſtets auf, und trug ihn tagelang auf
ſeinem Ruͤcken. So lange ich, ſprach er dann zu
denjenigen, welche nach der Urſache fragten, die-
ſen Dorn auf meinem Ruͤcken trage, kann ſich
ihn niemand in den Fuß treten, und Wunden,
ſetzte er ſeufzend hinzu, thun weh, ſehr weh!
Im Fruͤhjahre, als der Schnee ſchmolz, und
der Bach reißend und ſchnell durch das Dorf
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796/112>, abgerufen am 23.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.