ihn stets, und sprach liebreich mit ihm. Wenn sich dann, was gewöhnlich nach einer kleinen Vier- telstunde geschah, ihr Himmel wieder schloß, so eilte er in's Freie, irrte in Feldern herum, kam selten zum Mittagsmale nach Hause, stand aber richtig am Abende am Ufer des Baches, welcher das Dorf durchfloß. Lottchen gieng dann immer am gegenseitigen Ufer spazieren, und sprach ohne Furcht mit ihm, weil sie wähnte, daß der Bach die Gränze zwischen Himmel und Erde sei. Einst wagte es Wilhelm, und sprang hinüber, als er, von innerm Gefühle hingerissen, seiner Leidenschaft nicht mehr gebieten konnte. Lottchen sank ohn- mächtig zu Boden, und erwachte mit einer fürch- terlichen Raserei, die sich aber schon am dritten Tage, und, was Wilhelmen noch am glücklich- sten dünkte, mit gänzlicher Vergessenheit seiner Kühnheit endigte. Sie sah, und sprach ihn, wie ehe und zuvor, und gedachte derselben nie.
Wilhelm versank binnen Jahresfrist in eine tiefe, finstere Melancholie, die nahe an Wahn- sinn gränzte, er sprach oft den ganzen Tag kein Wort, wandelte am liebsten unter den Gräbern des Kirchhofs umher, ruhte oft auf seinen Leichen- steinen, versäumte aber nie die Zeit, wenn er sein Lottchen sehen konnte. Beide sprachen jetzt wenig, blickten nur still einander an, und kehrten dann wieder heim. Im späten Sommer des folgenden
Erst. Bändch. G
ihn ſtets, und ſprach liebreich mit ihm. Wenn ſich dann, was gewoͤhnlich nach einer kleinen Vier- telſtunde geſchah, ihr Himmel wieder ſchloß, ſo eilte er in's Freie, irrte in Feldern herum, kam ſelten zum Mittagsmale nach Hauſe, ſtand aber richtig am Abende am Ufer des Baches, welcher das Dorf durchfloß. Lottchen gieng dann immer am gegenſeitigen Ufer ſpazieren, und ſprach ohne Furcht mit ihm, weil ſie waͤhnte, daß der Bach die Graͤnze zwiſchen Himmel und Erde ſei. Einſt wagte es Wilhelm, und ſprang hinuͤber, als er, von innerm Gefuͤhle hingeriſſen, ſeiner Leidenſchaft nicht mehr gebieten konnte. Lottchen ſank ohn- maͤchtig zu Boden, und erwachte mit einer fuͤrch- terlichen Raſerei, die ſich aber ſchon am dritten Tage, und, was Wilhelmen noch am gluͤcklich- ſten duͤnkte, mit gaͤnzlicher Vergeſſenheit ſeiner Kuͤhnheit endigte. Sie ſah, und ſprach ihn, wie ehe und zuvor, und gedachte derſelben nie.
Wilhelm verſank binnen Jahresfriſt in eine tiefe, finſtere Melancholie, die nahe an Wahn- ſinn graͤnzte, er ſprach oft den ganzen Tag kein Wort, wandelte am liebſten unter den Graͤbern des Kirchhofs umher, ruhte oft auf ſeinen Leichen- ſteinen, verſaͤumte aber nie die Zeit, wenn er ſein Lottchen ſehen konnte. Beide ſprachen jetzt wenig, blickten nur ſtill einander an, und kehrten dann wieder heim. Im ſpaͤten Sommer des folgenden
Erſt. Baͤndch. G
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ihn ſtets, und ſprach liebreich mit ihm. Wenn
ſich dann, was gewoͤhnlich nach einer kleinen Vier-
telſtunde geſchah, ihr Himmel wieder ſchloß, ſo
eilte er in's Freie, irrte in Feldern herum, kam
ſelten zum Mittagsmale nach Hauſe, ſtand aber
richtig am Abende am Ufer des Baches, welcher
das Dorf durchfloß. Lottchen gieng dann immer
am gegenſeitigen Ufer ſpazieren, und ſprach ohne
Furcht mit ihm, weil ſie waͤhnte, daß der Bach
die Graͤnze zwiſchen Himmel und Erde ſei. Einſt
wagte es Wilhelm, und ſprang hinuͤber, als er,
von innerm Gefuͤhle hingeriſſen, ſeiner Leidenſchaft
nicht mehr gebieten konnte. Lottchen ſank ohn-
maͤchtig zu Boden, und erwachte mit einer fuͤrch-
terlichen Raſerei, die ſich aber ſchon am dritten
Tage, und, was Wilhelmen noch am gluͤcklich-
ſten duͤnkte, mit gaͤnzlicher Vergeſſenheit ſeiner
Kuͤhnheit endigte. Sie ſah, und ſprach ihn, wie
ehe und zuvor, und gedachte derſelben nie.
Wilhelm verſank binnen Jahresfriſt in eine
tiefe, finſtere Melancholie, die nahe an Wahn-
ſinn graͤnzte, er ſprach oft den ganzen Tag kein
Wort, wandelte am liebſten unter den Graͤbern
des Kirchhofs umher, ruhte oft auf ſeinen Leichen-
ſteinen, verſaͤumte aber nie die Zeit, wenn er ſein
Lottchen ſehen konnte. Beide ſprachen jetzt wenig,
blickten nur ſtill einander an, und kehrten dann
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Erſt. Baͤndch. G
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Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796/111>, abgerufen am 23.07.2024.
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