brauchte Muth und Stärke, um ihn vom Gegen- theile zu überzeugen, und nach und nach zur Er- zählung von Lottchens unglücklichem Schicksale vorzubereiten. Wilhelm jammerte schrecklich, als ihm die Erzählung ihrer Leiden ward, er bestand hartnäckig darauf, daß ihn der Pfarrer nach der Schule führen sollte. Er hofte, wenigstens mit ihr sprechen zu können, und wollte nur sein Kind sehen, und segnen. Als der Pfarrer endlich seiner dringenden Bitte nachgab, und mit ihm nach der Schule gieng, sahen sie Lottchen am obern Fen- ster stehen, und ängstlich umherblicken. Der Pfarrer bewog Wilhelmen zum Stillstande, ihr suchender Blick fand sie bald, sie starrte den hof- fenden Wilhelm an; endlich lächelte sie freund- lich und winkte ihn näher, wie er aber unaufhalt- sam nach der Thüre rannte, da schrie sie auf's neue erbärmlich um Hülfe. Ihre Thüre war fest verriegelt, Wilhelm konnte sie nicht öffnen, ihr anhaltendes Jammergeschrei bewog ihn endlich selbst abzulassen, weil der Pfarrer ihm nebenbei dringend vorstellte, daß weitere Gewalt sie zur Raserei verleiten könne. Ihr klägliches Geschrei nach Hülfe hatte viele Bewohner des Dorfs her- beigelockt, sie fanden den unglücklichen Wilhelm und bewillkommten ihn mit nassen Augen. Wä- ren sie früher gekommen, sagte ein altes Mütter- chen, dann hätte ich noch einmal auf ihrer Hoch- zeit getanzt, aber jetzt werden wir wohl nur mit- einander weinen können. Da Lottchen immer
brauchte Muth und Staͤrke, um ihn vom Gegen- theile zu uͤberzeugen, und nach und nach zur Er- zaͤhlung von Lottchens ungluͤcklichem Schickſale vorzubereiten. Wilhelm jammerte ſchrecklich, als ihm die Erzaͤhlung ihrer Leiden ward, er beſtand hartnaͤckig darauf, daß ihn der Pfarrer nach der Schule fuͤhren ſollte. Er hofte, wenigſtens mit ihr ſprechen zu koͤnnen, und wollte nur ſein Kind ſehen, und ſegnen. Als der Pfarrer endlich ſeiner dringenden Bitte nachgab, und mit ihm nach der Schule gieng, ſahen ſie Lottchen am obern Fen- ſter ſtehen, und aͤngſtlich umherblicken. Der Pfarrer bewog Wilhelmen zum Stillſtande, ihr ſuchender Blick fand ſie bald, ſie ſtarrte den hof- fenden Wilhelm an; endlich laͤchelte ſie freund- lich und winkte ihn naͤher, wie er aber unaufhalt- ſam nach der Thuͤre rannte, da ſchrie ſie auf's neue erbaͤrmlich um Huͤlfe. Ihre Thuͤre war feſt verriegelt, Wilhelm konnte ſie nicht oͤffnen, ihr anhaltendes Jammergeſchrei bewog ihn endlich ſelbſt abzulaſſen, weil der Pfarrer ihm nebenbei dringend vorſtellte, daß weitere Gewalt ſie zur Raſerei verleiten koͤnne. Ihr klaͤgliches Geſchrei nach Huͤlfe hatte viele Bewohner des Dorfs her- beigelockt, ſie fanden den ungluͤcklichen Wilhelm und bewillkommten ihn mit naſſen Augen. Waͤ- ren ſie fruͤher gekommen, ſagte ein altes Muͤtter- chen, dann haͤtte ich noch einmal auf ihrer Hoch- zeit getanzt, aber jetzt werden wir wohl nur mit- einander weinen koͤnnen. Da Lottchen immer
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brauchte Muth und Staͤrke, um ihn vom Gegen-
theile zu uͤberzeugen, und nach und nach zur Er-
zaͤhlung von Lottchens ungluͤcklichem Schickſale
vorzubereiten. Wilhelm jammerte ſchrecklich, als
ihm die Erzaͤhlung ihrer Leiden ward, er beſtand
hartnaͤckig darauf, daß ihn der Pfarrer nach der
Schule fuͤhren ſollte. Er hofte, wenigſtens mit
ihr ſprechen zu koͤnnen, und wollte nur ſein Kind
ſehen, und ſegnen. Als der Pfarrer endlich ſeiner
dringenden Bitte nachgab, und mit ihm nach der
Schule gieng, ſahen ſie Lottchen am obern Fen-
ſter ſtehen, und aͤngſtlich umherblicken. Der
Pfarrer bewog Wilhelmen zum Stillſtande, ihr
ſuchender Blick fand ſie bald, ſie ſtarrte den hof-
fenden Wilhelm an; endlich laͤchelte ſie freund-
lich und winkte ihn naͤher, wie er aber unaufhalt-
ſam nach der Thuͤre rannte, da ſchrie ſie auf's
neue erbaͤrmlich um Huͤlfe. Ihre Thuͤre war feſt
verriegelt, Wilhelm konnte ſie nicht oͤffnen, ihr
anhaltendes Jammergeſchrei bewog ihn endlich
ſelbſt abzulaſſen, weil der Pfarrer ihm nebenbei
dringend vorſtellte, daß weitere Gewalt ſie zur
Raſerei verleiten koͤnne. Ihr klaͤgliches Geſchrei
nach Huͤlfe hatte viele Bewohner des Dorfs her-
beigelockt, ſie fanden den ungluͤcklichen Wilhelm
und bewillkommten ihn mit naſſen Augen. Waͤ-
ren ſie fruͤher gekommen, ſagte ein altes Muͤtter-
chen, dann haͤtte ich noch einmal auf ihrer Hoch-
zeit getanzt, aber jetzt werden wir wohl nur mit-
einander weinen koͤnnen. Da Lottchen immer
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Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796/105>, abgerufen am 23.07.2024.
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