Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796.

Bild:
<< vorherige Seite

heilbar, und Rettung für unmöglich. Das un-
glückliche Lottchen, welches nun durch ihren
Wahnsinn innere Zufriedenheit und Seelenruhe
genoß, ward bald gesund, ihre Wangen rötheten
sich auf's neue, sie war reizender und schöner als
in den Tagen ihrer Unschuld. Sie liebte ihr Kind
mit seltener Zärtlichkeit, sie wartete und pflegte
es mit einer Sorgfalt, der keine andere Mutter
fähig war. Oft wiegten es, ihrer Einbildung
nach, die Engel, aber sie wich doch nie von sei-
ner Wiege, und beobachtete stets die kleinste Be-
wegung desselben. Ihre unnatürlichen Schwestern
besuchten sie nie mehr, sie theilten die ganze Erb-
schaft unter sich, und die redliche Gemeinde hin-
derte es nicht, weil die Glieder derselben glaub-
ten, daß eine Klage darüber der Reue ihres Ge-
lübdes ähnlich sähe, durch welches sie sich ver-
bunden hatten, Lottchen sammt ihrem Kinde zu
ernähren. Aber der gewissenhafte Superintendent
duldete dies Unrecht nicht, er vertrat die Verlaß-
ne, die Gerechtigkeit entschied, und Lottchen er-
hielt gleichen Antheil am Erbe des Vaters. Es
ward den Vorstehern der großmüthigen Gemeinde
zur Verwaltung übergeben, weil sie einstimmig
erklärten, daß sie ihr einmal angenommenes Pfle-
gekind nicht aus ihrer Mitte lassen wollten. Das
ganze Erbtheil bestand in eilfhundert Thalern, sie
legten diese auf sichere Zinsen, machten diese im-
mer wieder zu Kapital, und ernährten Lottchen
aus Eigenem, damit ihr unschuldiges Kind einst

heilbar, und Rettung fuͤr unmoͤglich. Das un-
gluͤckliche Lottchen, welches nun durch ihren
Wahnſinn innere Zufriedenheit und Seelenruhe
genoß, ward bald geſund, ihre Wangen roͤtheten
ſich auf's neue, ſie war reizender und ſchoͤner als
in den Tagen ihrer Unſchuld. Sie liebte ihr Kind
mit ſeltener Zaͤrtlichkeit, ſie wartete und pflegte
es mit einer Sorgfalt, der keine andere Mutter
faͤhig war. Oft wiegten es, ihrer Einbildung
nach, die Engel, aber ſie wich doch nie von ſei-
ner Wiege, und beobachtete ſtets die kleinſte Be-
wegung deſſelben. Ihre unnatuͤrlichen Schweſtern
beſuchten ſie nie mehr, ſie theilten die ganze Erb-
ſchaft unter ſich, und die redliche Gemeinde hin-
derte es nicht, weil die Glieder derſelben glaub-
ten, daß eine Klage daruͤber der Reue ihres Ge-
luͤbdes aͤhnlich ſaͤhe, durch welches ſie ſich ver-
bunden hatten, Lottchen ſammt ihrem Kinde zu
ernaͤhren. Aber der gewiſſenhafte Superintendent
duldete dies Unrecht nicht, er vertrat die Verlaß-
ne, die Gerechtigkeit entſchied, und Lottchen er-
hielt gleichen Antheil am Erbe des Vaters. Es
ward den Vorſtehern der großmuͤthigen Gemeinde
zur Verwaltung uͤbergeben, weil ſie einſtimmig
erklaͤrten, daß ſie ihr einmal angenommenes Pfle-
gekind nicht aus ihrer Mitte laſſen wollten. Das
ganze Erbtheil beſtand in eilfhundert Thalern, ſie
legten dieſe auf ſichere Zinſen, machten dieſe im-
mer wieder zu Kapital, und ernaͤhrten Lottchen
aus Eigenem, damit ihr unſchuldiges Kind einſt

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0101" n="87"/>
heilbar, und Rettung fu&#x0364;r unmo&#x0364;glich. Das                     un-<lb/>
glu&#x0364;ckliche Lottchen, welches nun durch ihren<lb/>
Wahn&#x017F;inn innere                     Zufriedenheit und Seelenruhe<lb/>
genoß, ward bald ge&#x017F;und, ihre Wangen                     ro&#x0364;theten<lb/>
&#x017F;ich auf's neue, &#x017F;ie war reizender und &#x017F;cho&#x0364;ner als<lb/>
in den                     Tagen ihrer Un&#x017F;chuld. Sie liebte ihr Kind<lb/>
mit &#x017F;eltener Za&#x0364;rtlichkeit, &#x017F;ie                     wartete und pflegte<lb/>
es mit einer Sorgfalt, der keine andere                     Mutter<lb/>
fa&#x0364;hig war. Oft wiegten es, ihrer Einbildung<lb/>
nach, die Engel,                     aber &#x017F;ie wich doch nie von &#x017F;ei-<lb/>
ner Wiege, und beobachtete &#x017F;tets die                     klein&#x017F;te Be-<lb/>
wegung de&#x017F;&#x017F;elben. Ihre unnatu&#x0364;rlichen Schwe&#x017F;tern<lb/>
be&#x017F;uchten                     &#x017F;ie nie mehr, &#x017F;ie theilten die ganze Erb-<lb/>
&#x017F;chaft unter &#x017F;ich, und die                     redliche Gemeinde hin-<lb/>
derte es nicht, weil die Glieder der&#x017F;elben                     glaub-<lb/>
ten, daß eine Klage daru&#x0364;ber der Reue ihres Ge-<lb/>
lu&#x0364;bdes a&#x0364;hnlich                     &#x017F;a&#x0364;he, durch welches &#x017F;ie &#x017F;ich ver-<lb/>
bunden hatten, Lottchen &#x017F;ammt ihrem Kinde                     zu<lb/>
erna&#x0364;hren. Aber der gewi&#x017F;&#x017F;enhafte Superintendent<lb/>
duldete dies Unrecht                     nicht, er vertrat die Verlaß-<lb/>
ne, die Gerechtigkeit ent&#x017F;chied, und Lottchen                     er-<lb/>
hielt gleichen Antheil am Erbe des Vaters. Es<lb/>
ward den Vor&#x017F;tehern                     der großmu&#x0364;thigen Gemeinde<lb/>
zur Verwaltung u&#x0364;bergeben, weil &#x017F;ie                     ein&#x017F;timmig<lb/>
erkla&#x0364;rten, daß &#x017F;ie ihr einmal angenommenes Pfle-<lb/>
gekind                     nicht aus ihrer Mitte la&#x017F;&#x017F;en wollten. Das<lb/>
ganze Erbtheil be&#x017F;tand in                     eilfhundert Thalern, &#x017F;ie<lb/>
legten die&#x017F;e auf &#x017F;ichere Zin&#x017F;en, machten die&#x017F;e                     im-<lb/>
mer wieder zu Kapital, und erna&#x0364;hrten Lottchen<lb/>
aus Eigenem, damit                     ihr un&#x017F;chuldiges Kind ein&#x017F;t<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[87/0101] heilbar, und Rettung fuͤr unmoͤglich. Das un- gluͤckliche Lottchen, welches nun durch ihren Wahnſinn innere Zufriedenheit und Seelenruhe genoß, ward bald geſund, ihre Wangen roͤtheten ſich auf's neue, ſie war reizender und ſchoͤner als in den Tagen ihrer Unſchuld. Sie liebte ihr Kind mit ſeltener Zaͤrtlichkeit, ſie wartete und pflegte es mit einer Sorgfalt, der keine andere Mutter faͤhig war. Oft wiegten es, ihrer Einbildung nach, die Engel, aber ſie wich doch nie von ſei- ner Wiege, und beobachtete ſtets die kleinſte Be- wegung deſſelben. Ihre unnatuͤrlichen Schweſtern beſuchten ſie nie mehr, ſie theilten die ganze Erb- ſchaft unter ſich, und die redliche Gemeinde hin- derte es nicht, weil die Glieder derſelben glaub- ten, daß eine Klage daruͤber der Reue ihres Ge- luͤbdes aͤhnlich ſaͤhe, durch welches ſie ſich ver- bunden hatten, Lottchen ſammt ihrem Kinde zu ernaͤhren. Aber der gewiſſenhafte Superintendent duldete dies Unrecht nicht, er vertrat die Verlaß- ne, die Gerechtigkeit entſchied, und Lottchen er- hielt gleichen Antheil am Erbe des Vaters. Es ward den Vorſtehern der großmuͤthigen Gemeinde zur Verwaltung uͤbergeben, weil ſie einſtimmig erklaͤrten, daß ſie ihr einmal angenommenes Pfle- gekind nicht aus ihrer Mitte laſſen wollten. Das ganze Erbtheil beſtand in eilfhundert Thalern, ſie legten dieſe auf ſichere Zinſen, machten dieſe im- mer wieder zu Kapital, und ernaͤhrten Lottchen aus Eigenem, damit ihr unſchuldiges Kind einſt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796/101
Zitationshilfe: Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796/101>, abgerufen am 29.11.2024.