sie ihm doch mit einem freundlichen Lächeln auf den stolzen Lippen entgegen, sobald der leuchtende Som¬ mermorgen die kurze und doch für ihn so lange Nacht verdrängt hatte; saß er ihr doch bei Tische gegenüber; brachten die Unterrichtsstunden, gemeinsame Spazier¬ gänge, hundert andere Gelegenheiten, die in einem so kleinen Cirkel auf dem Lande beinahe unvermeidlich sind, ihn wieder und immer wieder mit der Herrlichen in Berührung! Er selbst nannte seine Leidenschaft nicht Liebe, sondern nur lebhafte Theilnahme, Freund¬ schaft -- er suchte sich einzureden, daß er diese Theil¬ nahme, diese Freundschaft ganz ebenso empfunden haben würde, wenn sein Verhältniß zu Melitta das¬ selbe geblieben wäre, ihm der Zufall nicht Melitta's Bild in einem so ganz anderen Lichte gezeigt hätte. Daß es weder von Klugheit, noch von Loyalität zeuge, dem trügerischen Zufall zum Herrn zu machen über das Wohl und Wehe eines noch vor kurzem so heiß geliebten Weibes; daß seine prahlenden Vernunft¬ gründe nur schlaue Sophismen einer wilden Leiden¬ schaft seien -- Oswald wäre der Erste gewesen, dies in dem Falle eines Anderen zu entdecken und zu rügen, aber die Klugheit, die Loyalität, die wir in der Be¬ urtheilung fremder Angelegenheiten stets bereit haben, fehlen uns nur zu oft in unseren eigenen; und weise
ſie ihm doch mit einem freundlichen Lächeln auf den ſtolzen Lippen entgegen, ſobald der leuchtende Som¬ mermorgen die kurze und doch für ihn ſo lange Nacht verdrängt hatte; ſaß er ihr doch bei Tiſche gegenüber; brachten die Unterrichtsſtunden, gemeinſame Spazier¬ gänge, hundert andere Gelegenheiten, die in einem ſo kleinen Cirkel auf dem Lande beinahe unvermeidlich ſind, ihn wieder und immer wieder mit der Herrlichen in Berührung! Er ſelbſt nannte ſeine Leidenſchaft nicht Liebe, ſondern nur lebhafte Theilnahme, Freund¬ ſchaft — er ſuchte ſich einzureden, daß er dieſe Theil¬ nahme, dieſe Freundſchaft ganz ebenſo empfunden haben würde, wenn ſein Verhältniß zu Melitta das¬ ſelbe geblieben wäre, ihm der Zufall nicht Melitta's Bild in einem ſo ganz anderen Lichte gezeigt hätte. Daß es weder von Klugheit, noch von Loyalität zeuge, dem trügeriſchen Zufall zum Herrn zu machen über das Wohl und Wehe eines noch vor kurzem ſo heiß geliebten Weibes; daß ſeine prahlenden Vernunft¬ gründe nur ſchlaue Sophismen einer wilden Leiden¬ ſchaft ſeien — Oswald wäre der Erſte geweſen, dies in dem Falle eines Anderen zu entdecken und zu rügen, aber die Klugheit, die Loyalität, die wir in der Be¬ urtheilung fremder Angelegenheiten ſtets bereit haben, fehlen uns nur zu oft in unſeren eigenen; und weiſe
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0129"n="119"/>ſie ihm doch mit einem freundlichen Lächeln auf den<lb/>ſtolzen Lippen entgegen, ſobald der leuchtende Som¬<lb/>
mermorgen die kurze und doch für ihn ſo lange Nacht<lb/>
verdrängt hatte; ſaß er ihr doch bei Tiſche gegenüber;<lb/>
brachten die Unterrichtsſtunden, gemeinſame Spazier¬<lb/>
gänge, hundert andere Gelegenheiten, die in einem ſo<lb/>
kleinen Cirkel auf dem Lande beinahe unvermeidlich<lb/>ſind, ihn wieder und immer wieder mit der Herrlichen<lb/>
in Berührung! Er ſelbſt nannte ſeine Leidenſchaft<lb/>
nicht Liebe, ſondern nur lebhafte Theilnahme, Freund¬<lb/>ſchaft — er ſuchte ſich einzureden, daß er dieſe Theil¬<lb/>
nahme, dieſe Freundſchaft ganz ebenſo empfunden<lb/>
haben würde, wenn ſein Verhältniß zu Melitta das¬<lb/>ſelbe geblieben wäre, ihm der Zufall nicht Melitta's<lb/>
Bild in einem ſo ganz anderen Lichte gezeigt hätte.<lb/>
Daß es weder von Klugheit, noch von Loyalität zeuge,<lb/>
dem trügeriſchen Zufall zum Herrn zu machen über<lb/>
das Wohl und Wehe eines noch vor kurzem ſo heiß<lb/>
geliebten Weibes; daß ſeine prahlenden Vernunft¬<lb/>
gründe nur ſchlaue Sophismen einer wilden Leiden¬<lb/>ſchaft ſeien — Oswald wäre der Erſte geweſen, dies<lb/>
in dem Falle eines Anderen zu entdecken und zu rügen,<lb/>
aber die Klugheit, die Loyalität, die wir in der Be¬<lb/>
urtheilung fremder Angelegenheiten ſtets bereit haben,<lb/>
fehlen uns nur zu oft in unſeren eigenen; und weiſe<lb/></p></div></body></text></TEI>
[119/0129]
ſie ihm doch mit einem freundlichen Lächeln auf den
ſtolzen Lippen entgegen, ſobald der leuchtende Som¬
mermorgen die kurze und doch für ihn ſo lange Nacht
verdrängt hatte; ſaß er ihr doch bei Tiſche gegenüber;
brachten die Unterrichtsſtunden, gemeinſame Spazier¬
gänge, hundert andere Gelegenheiten, die in einem ſo
kleinen Cirkel auf dem Lande beinahe unvermeidlich
ſind, ihn wieder und immer wieder mit der Herrlichen
in Berührung! Er ſelbſt nannte ſeine Leidenſchaft
nicht Liebe, ſondern nur lebhafte Theilnahme, Freund¬
ſchaft — er ſuchte ſich einzureden, daß er dieſe Theil¬
nahme, dieſe Freundſchaft ganz ebenſo empfunden
haben würde, wenn ſein Verhältniß zu Melitta das¬
ſelbe geblieben wäre, ihm der Zufall nicht Melitta's
Bild in einem ſo ganz anderen Lichte gezeigt hätte.
Daß es weder von Klugheit, noch von Loyalität zeuge,
dem trügeriſchen Zufall zum Herrn zu machen über
das Wohl und Wehe eines noch vor kurzem ſo heiß
geliebten Weibes; daß ſeine prahlenden Vernunft¬
gründe nur ſchlaue Sophismen einer wilden Leiden¬
ſchaft ſeien — Oswald wäre der Erſte geweſen, dies
in dem Falle eines Anderen zu entdecken und zu rügen,
aber die Klugheit, die Loyalität, die wir in der Be¬
urtheilung fremder Angelegenheiten ſtets bereit haben,
fehlen uns nur zu oft in unſeren eigenen; und weiſe
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 4. Berlin, 1861, S. 119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische04_1861/129>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.