einer Familie französischer Refügies und wäre wol schon längst in das geliebte Land seiner Väter zurück¬ gekehrt, da er hier gar keine Verwandte, ja nicht ein¬ mal Freunde hat, wenn er nicht fürchten müßte, dort, wo alle Welt die Sprache spricht, in der er hier Un¬ terricht ertheilt, Hungers zu sterben. Er ist sehr wunderlich, aber das bravste Herz von der Welt. Er würde für mich durch's Feuer gehen und au deses- poir sein, wenn er nur die leiseste Ahnung von un¬ serem Verhältnisse hätte. -- Dies Alles würde ich Ihnen schon gestern Abend gesagt haben; aber ich wollte einmal sehen, ob Sie auch Widerspruch ver¬ tragen könnten. Sind Sie jetzt zufrieden? Au revoir, Monsieur le Baron!
Votre tres-mechante Marie M.
"Dies ist die einzige Notiz über diesen Monsieur d'Estein," sagte Albert, den Brief auf den Schooß sinken lassend und nachdenkliche Wolken aus seiner Cigarre blasend; "ohne Zweifel derselbe, welcher in der Erzählung der Alten als Schacherjude wieder auf¬ tritt, um das Terrain vorläufig zu recognosciren, und hernach die Entführung der bedrängten Unschuld be¬ werkstelligt. Ich fürchte, es sind hier einige Briefe verloren gegangen, denn als der nächstfolgende ge¬
einer Familie franzöſiſcher Réfügiés und wäre wol ſchon längſt in das geliebte Land ſeiner Väter zurück¬ gekehrt, da er hier gar keine Verwandte, ja nicht ein¬ mal Freunde hat, wenn er nicht fürchten müßte, dort, wo alle Welt die Sprache ſpricht, in der er hier Un¬ terricht ertheilt, Hungers zu ſterben. Er iſt ſehr wunderlich, aber das bravſte Herz von der Welt. Er würde für mich durch's Feuer gehen und au déses– poir ſein, wenn er nur die leiſeſte Ahnung von un¬ ſerem Verhältniſſe hätte. — Dies Alles würde ich Ihnen ſchon geſtern Abend geſagt haben; aber ich wollte einmal ſehen, ob Sie auch Widerſpruch ver¬ tragen könnten. Sind Sie jetzt zufrieden? Au revoir, Monsieur le Baron!
Votre très-méchante Marie M.
„Dies iſt die einzige Notiz über dieſen Monſieur d'Eſtein,“ ſagte Albert, den Brief auf den Schooß ſinken laſſend und nachdenkliche Wolken aus ſeiner Cigarre blaſend; „ohne Zweifel derſelbe, welcher in der Erzählung der Alten als Schacherjude wieder auf¬ tritt, um das Terrain vorläufig zu recognosciren, und hernach die Entführung der bedrängten Unſchuld be¬ werkſtelligt. Ich fürchte, es ſind hier einige Briefe verloren gegangen, denn als der nächſtfolgende ge¬
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einer Familie franzöſiſcher Réfügiés und wäre wol
ſchon längſt in das geliebte Land ſeiner Väter zurück¬
gekehrt, da er hier gar keine Verwandte, ja nicht ein¬
mal Freunde hat, wenn er nicht fürchten müßte, dort,
wo alle Welt die Sprache ſpricht, in der er hier Un¬
terricht ertheilt, Hungers zu ſterben. Er iſt ſehr
wunderlich, aber das bravſte Herz von der Welt. Er
würde für mich durch's Feuer gehen und au déses–
poir ſein, wenn er nur die leiſeſte Ahnung von un¬
ſerem Verhältniſſe hätte. — Dies Alles würde ich
Ihnen ſchon geſtern Abend geſagt haben; aber ich
wollte einmal ſehen, ob Sie auch Widerſpruch ver¬
tragen könnten. Sind Sie jetzt zufrieden? Au revoir,
Monsieur le Baron!
Votre très-méchante Marie M.
„Dies iſt die einzige Notiz über dieſen Monſieur
d'Eſtein,“ ſagte Albert, den Brief auf den Schooß
ſinken laſſend und nachdenkliche Wolken aus ſeiner
Cigarre blaſend; „ohne Zweifel derſelbe, welcher in
der Erzählung der Alten als Schacherjude wieder auf¬
tritt, um das Terrain vorläufig zu recognosciren, und
hernach die Entführung der bedrängten Unſchuld be¬
werkſtelligt. Ich fürchte, es ſind hier einige Briefe
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Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 3. Berlin, 1861, S. 230. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische03_1861/240>, abgerufen am 16.02.2025.
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