Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 3. Berlin, 1861."Na, auf eine halbe Stunde kommt es schon nicht Der alte Mann faßte salutirend an seine Mütze, Oswald eilte auf seine Stube, ohne Jemand zu Als er sich spät am Abend hinsetzte, die Antwort „Na, auf eine halbe Stunde kommt es ſchon nicht Der alte Mann faßte ſalutirend an ſeine Mütze, Oswald eilte auf ſeine Stube, ohne Jemand zu Als er ſich ſpät am Abend hinſetzte, die Antwort <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0168" n="158"/> <p>„Na, auf eine halbe Stunde kommt es ſchon nicht<lb/> an,“ ſagte der alte Baumann, ſein Pferd beſteigend.<lb/> „Die Poſt geht nicht vor acht Uhr, und bis dahin bin<lb/> ich mit dem Brownlock zweimal hin und zurück. Ich<lb/> wünſche nochmals wohlſchlafende Nacht.“</p><lb/> <p>Der alte Mann faßte ſalutirend an ſeine Mütze,<lb/> lenkte den Brownlock herum und trabte durch die<lb/> Tannen zurück nach Berkow.</p><lb/> <p>Oswald eilte auf ſeine Stube, ohne Jemand zu<lb/> begegnen, da die Geſellſchaft von ihrem Spaziergang<lb/> noch nicht zurück war. Mit zitternder Hand öffnete<lb/> er den Brief und durchflog ihn mit athemloſer Haſt,<lb/> um ihn dann langſam wieder und wieder zu leſen,<lb/> wie man Briefe lieſt, von denen jedes einzelne Wort<lb/> uns berührt, wie ein Kuß von geliebten Lippen.</p><lb/> <p>Als er ſich ſpät am Abend hinſetzte, die Antwort<lb/> zu ſchreiben, ertönte derſelbe Geſang, der ihn geſtern<lb/> Abend in ſo überſchwängliche Begeiſterung verſetzt<lb/> hatte; heute aber ſchloß er das Fenſter, denn er<lb/> fühlte, daß ſeine Bewunderung für das ſchöne Mäd¬<lb/> chen doch im Grunde ein Verrath an ſeiner Liebe zu<lb/> Melitta war, obgleich er natürlich, nach Menſchen¬<lb/> weiſe, die anklagende Stimme ſeines Gewiſſens mög¬<lb/> lichſt zu überhören verſuchte.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> </div> </body> </text> </TEI> [158/0168]
„Na, auf eine halbe Stunde kommt es ſchon nicht
an,“ ſagte der alte Baumann, ſein Pferd beſteigend.
„Die Poſt geht nicht vor acht Uhr, und bis dahin bin
ich mit dem Brownlock zweimal hin und zurück. Ich
wünſche nochmals wohlſchlafende Nacht.“
Der alte Mann faßte ſalutirend an ſeine Mütze,
lenkte den Brownlock herum und trabte durch die
Tannen zurück nach Berkow.
Oswald eilte auf ſeine Stube, ohne Jemand zu
begegnen, da die Geſellſchaft von ihrem Spaziergang
noch nicht zurück war. Mit zitternder Hand öffnete
er den Brief und durchflog ihn mit athemloſer Haſt,
um ihn dann langſam wieder und wieder zu leſen,
wie man Briefe lieſt, von denen jedes einzelne Wort
uns berührt, wie ein Kuß von geliebten Lippen.
Als er ſich ſpät am Abend hinſetzte, die Antwort
zu ſchreiben, ertönte derſelbe Geſang, der ihn geſtern
Abend in ſo überſchwängliche Begeiſterung verſetzt
hatte; heute aber ſchloß er das Fenſter, denn er
fühlte, daß ſeine Bewunderung für das ſchöne Mäd¬
chen doch im Grunde ein Verrath an ſeiner Liebe zu
Melitta war, obgleich er natürlich, nach Menſchen¬
weiſe, die anklagende Stimme ſeines Gewiſſens mög¬
lichſt zu überhören verſuchte.
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