sem hehren Waldestempel überkam die Erinnerung an Melitta Oswald's Herz mit aller Macht. Ihre hohe, und bei aller lieblichen Fülle so jungfräuliche Gestalt, ihr reiches, braunes Haar, das in so weichen Wellen von dem Scheitel zum Nacken herabfloß, ihre dunkeln zärtlichen Augen; ihre reizende Schalkhaftig¬ keit, ihr liebliches neckisches Wesen -- und ach! vor allem ihre unendliche Güte und Liebe -- wie deutlich ihr Bild vor seiner Seele stand! wie heiß er sich ge¬ lobte, der Lieben, Guten, Holden nie, auch nur in Gedanken untreu zu werden, und komme, was da wolle, ihre Liebe mit unendlicher Liebe zu er¬ wiedern.
Da ertönte Hufschlag durch den stillen Wald und bald tauchte aus dem Halbdunkel ein Reiter auf, der in raschem Trabe daherkam. Oswald durchfuhr ein freudiger Schrecken, als er in dem Reiter den alten Baumann auf dem Brownlock erkannte.
"Einen Brief? Haben Sie einen Brief?" rief er mit einer Heftigkeit, die Brownlock einen Schritt zur Seite springen machte.
"Ruhig, Brownlock, ruhig," sagte der Alte, dem Pferde den schlanken Hals hätschelnd; "guten Abend, junger Herr! Ich habe Sie schon in Sassitz gesucht, allwo ich erfahren, daß Sie sich am gestrigen Tage
ſem hehren Waldestempel überkam die Erinnerung an Melitta Oswald's Herz mit aller Macht. Ihre hohe, und bei aller lieblichen Fülle ſo jungfräuliche Geſtalt, ihr reiches, braunes Haar, das in ſo weichen Wellen von dem Scheitel zum Nacken herabfloß, ihre dunkeln zärtlichen Augen; ihre reizende Schalkhaftig¬ keit, ihr liebliches neckiſches Weſen — und ach! vor allem ihre unendliche Güte und Liebe — wie deutlich ihr Bild vor ſeiner Seele ſtand! wie heiß er ſich ge¬ lobte, der Lieben, Guten, Holden nie, auch nur in Gedanken untreu zu werden, und komme, was da wolle, ihre Liebe mit unendlicher Liebe zu er¬ wiedern.
Da ertönte Hufſchlag durch den ſtillen Wald und bald tauchte aus dem Halbdunkel ein Reiter auf, der in raſchem Trabe daherkam. Oswald durchfuhr ein freudiger Schrecken, als er in dem Reiter den alten Baumann auf dem Brownlock erkannte.
„Einen Brief? Haben Sie einen Brief?“ rief er mit einer Heftigkeit, die Brownlock einen Schritt zur Seite ſpringen machte.
„Ruhig, Brownlock, ruhig,“ ſagte der Alte, dem Pferde den ſchlanken Hals hätſchelnd; „guten Abend, junger Herr! Ich habe Sie ſchon in Saſſitz geſucht, allwo ich erfahren, daß Sie ſich am geſtrigen Tage
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ſem hehren Waldestempel überkam die Erinnerung
an Melitta Oswald's Herz mit aller Macht. Ihre
hohe, und bei aller lieblichen Fülle ſo jungfräuliche
Geſtalt, ihr reiches, braunes Haar, das in ſo weichen
Wellen von dem Scheitel zum Nacken herabfloß, ihre
dunkeln zärtlichen Augen; ihre reizende Schalkhaftig¬
keit, ihr liebliches neckiſches Weſen — und ach! vor
allem ihre unendliche Güte und Liebe — wie deutlich
ihr Bild vor ſeiner Seele ſtand! wie heiß er ſich ge¬
lobte, der Lieben, Guten, Holden nie, auch nur
in Gedanken untreu zu werden, und komme, was
da wolle, ihre Liebe mit unendlicher Liebe zu er¬
wiedern.
Da ertönte Hufſchlag durch den ſtillen Wald und
bald tauchte aus dem Halbdunkel ein Reiter auf, der
in raſchem Trabe daherkam. Oswald durchfuhr ein
freudiger Schrecken, als er in dem Reiter den alten
Baumann auf dem Brownlock erkannte.
„Einen Brief? Haben Sie einen Brief?“ rief er
mit einer Heftigkeit, die Brownlock einen Schritt zur
Seite ſpringen machte.
„Ruhig, Brownlock, ruhig,“ ſagte der Alte, dem
Pferde den ſchlanken Hals hätſchelnd; „guten Abend,
junger Herr! Ich habe Sie ſchon in Saſſitz geſucht,
allwo ich erfahren, daß Sie ſich am geſtrigen Tage
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Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 3. Berlin, 1861, S. 149. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische03_1861/159>, abgerufen am 16.02.2025.
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