Albert ging in die Registratur, ein großes Gemach in dem Erdgeschoß des alten Schlosses, dessen Wände von oben bis unten mit Repositorien voller ganz oder halb vergilbter Acten und Schriftstücke der verschie¬ densten Art, von denen gar manches für einen fleißigen Alterthümler von hohem Interesse gewesen sein würde, bedeckt waren. Während er in einem dieser Reposi¬ torien nach der alten Flurkarte kramte, fiel ihm ein kleines Bündel Briefe in die Hände, das er wol, wie schon einige andere ähnliche, in das Versteck, aus welchem er sie unversehens hervorgeholt hatte, zurück¬ geschleudert haben würde, wenn nicht die Aufschrift: "An den Baron Harald von Grenwitz, Hochgeboren auf Grenwitz," seine Neugierde erregt hätte. Da eine übertriebene Discretion durchaus nicht zu den hervor¬ stechenden Eigenschaften des Herrn Timm gehörte, so löste er ohne weiteres den rothen Faden, mit welchem die Briefe zusammengebunden waren, und begann die¬ selben einen nach dem andern zu lesen -- eine Be¬ schäftigung, die ihn so ausnehmend interessirte, daß er alles Andere darüber vergaß und selbst das Rollen eines Wagens überhörte, der vor dem Portale still hielt und dessen höchst unerwartete Ankunft eine nicht geringe Sensation in dem Schlosse hervorrief.
Albert ging in die Regiſtratur, ein großes Gemach in dem Erdgeſchoß des alten Schloſſes, deſſen Wände von oben bis unten mit Repoſitorien voller ganz oder halb vergilbter Acten und Schriftſtücke der verſchie¬ denſten Art, von denen gar manches für einen fleißigen Alterthümler von hohem Intereſſe geweſen ſein würde, bedeckt waren. Während er in einem dieſer Repoſi¬ torien nach der alten Flurkarte kramte, fiel ihm ein kleines Bündel Briefe in die Hände, das er wol, wie ſchon einige andere ähnliche, in das Verſteck, aus welchem er ſie unverſehens hervorgeholt hatte, zurück¬ geſchleudert haben würde, wenn nicht die Aufſchrift: „An den Baron Harald von Grenwitz, Hochgeboren auf Grenwitz,“ ſeine Neugierde erregt hätte. Da eine übertriebene Discretion durchaus nicht zu den hervor¬ ſtechenden Eigenſchaften des Herrn Timm gehörte, ſo löſte er ohne weiteres den rothen Faden, mit welchem die Briefe zuſammengebunden waren, und begann die¬ ſelben einen nach dem andern zu leſen — eine Be¬ ſchäftigung, die ihn ſo ausnehmend intereſſirte, daß er alles Andere darüber vergaß und ſelbſt das Rollen eines Wagens überhörte, der vor dem Portale ſtill hielt und deſſen höchſt unerwartete Ankunft eine nicht geringe Senſation in dem Schloſſe hervorrief.
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[92/0102]
Albert ging in die Regiſtratur, ein großes Gemach
in dem Erdgeſchoß des alten Schloſſes, deſſen Wände
von oben bis unten mit Repoſitorien voller ganz oder
halb vergilbter Acten und Schriftſtücke der verſchie¬
denſten Art, von denen gar manches für einen fleißigen
Alterthümler von hohem Intereſſe geweſen ſein würde,
bedeckt waren. Während er in einem dieſer Repoſi¬
torien nach der alten Flurkarte kramte, fiel ihm ein
kleines Bündel Briefe in die Hände, das er wol, wie
ſchon einige andere ähnliche, in das Verſteck, aus
welchem er ſie unverſehens hervorgeholt hatte, zurück¬
geſchleudert haben würde, wenn nicht die Aufſchrift:
„An den Baron Harald von Grenwitz, Hochgeboren
auf Grenwitz,“ ſeine Neugierde erregt hätte. Da eine
übertriebene Discretion durchaus nicht zu den hervor¬
ſtechenden Eigenſchaften des Herrn Timm gehörte, ſo
löſte er ohne weiteres den rothen Faden, mit welchem
die Briefe zuſammengebunden waren, und begann die¬
ſelben einen nach dem andern zu leſen — eine Be¬
ſchäftigung, die ihn ſo ausnehmend intereſſirte, daß
er alles Andere darüber vergaß und ſelbſt das Rollen
eines Wagens überhörte, der vor dem Portale ſtill
hielt und deſſen höchſt unerwartete Ankunft eine nicht
geringe Senſation in dem Schloſſe hervorrief.
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Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 3. Berlin, 1861, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische03_1861/102>, abgerufen am 16.07.2024.
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