wie zu vermuthen steht, auch Leute gegeben hat, mit denen man Thüren und Wände einrennen konnte, welche dicke Schädel müssen die gehabt haben!"
"Wollen Sie gefälligst einmal die Brille abneh¬ men?" sagte Oswald.
"Mit Vergnügen. Hätte ich im Mittelalter ge¬ lebt, würde ich mir nicht an der Lectüre schlecht ge¬ druckter Schmöcker die Augen verdorben haben. Wenn das Mittelalter überhaupt einen Vorzug vor unserer Zeit hatte, so ist es der, daß die Leute nichts zu ler¬ nen brauchten. Denken Sie sich: keine Schulen, keinen Cornelius Nepos, keine Geschichte des Mittel¬ alters, keine Examina; blos ein paar Fechtstunden bei einem alten Haudegen von Knappen, der, wie der Klosterbruder im Nathan, der Herren gar viel gehabt und von dem einen noch immer ein hübscheres Schel¬ menstückchen zu erzählen weiß, als von dem andern; und dann etwa, wenn man Anspruch auf höhere Bil¬ dung machte, ein paar Lectionen auf der Laute bei einem lustigen, fahrenden Gesellen, der voller hübscher Lieder und toller Schwänke steckt, der vor tausend Thüren gesungen und eben so viel schöne Mädchen geküßt hat -- das muß doch ein famoses Leben ge¬ wesen sein! Und vor allem diese Leichtigkeit der Orts¬ veränderung, diese unbedingte, oder höchstens durch ein
wie zu vermuthen ſteht, auch Leute gegeben hat, mit denen man Thüren und Wände einrennen konnte, welche dicke Schädel müſſen die gehabt haben!“
„Wollen Sie gefälligſt einmal die Brille abneh¬ men?“ ſagte Oswald.
„Mit Vergnügen. Hätte ich im Mittelalter ge¬ lebt, würde ich mir nicht an der Lectüre ſchlecht ge¬ druckter Schmöcker die Augen verdorben haben. Wenn das Mittelalter überhaupt einen Vorzug vor unſerer Zeit hatte, ſo iſt es der, daß die Leute nichts zu ler¬ nen brauchten. Denken Sie ſich: keine Schulen, keinen Cornelius Nepos, keine Geſchichte des Mittel¬ alters, keine Examina; blos ein paar Fechtſtunden bei einem alten Haudegen von Knappen, der, wie der Kloſterbruder im Nathan, der Herren gar viel gehabt und von dem einen noch immer ein hübſcheres Schel¬ menſtückchen zu erzählen weiß, als von dem andern; und dann etwa, wenn man Anſpruch auf höhere Bil¬ dung machte, ein paar Lectionen auf der Laute bei einem luſtigen, fahrenden Geſellen, der voller hübſcher Lieder und toller Schwänke ſteckt, der vor tauſend Thüren geſungen und eben ſo viel ſchöne Mädchen geküßt hat — das muß doch ein famoſes Leben ge¬ weſen ſein! Und vor allem dieſe Leichtigkeit der Orts¬ veränderung, dieſe unbedingte, oder höchſtens durch ein
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wie zu vermuthen ſteht, auch Leute gegeben hat, mit
denen man Thüren und Wände einrennen konnte,
welche dicke Schädel müſſen die gehabt haben!“
„Wollen Sie gefälligſt einmal die Brille abneh¬
men?“ ſagte Oswald.
„Mit Vergnügen. Hätte ich im Mittelalter ge¬
lebt, würde ich mir nicht an der Lectüre ſchlecht ge¬
druckter Schmöcker die Augen verdorben haben. Wenn
das Mittelalter überhaupt einen Vorzug vor unſerer
Zeit hatte, ſo iſt es der, daß die Leute nichts zu ler¬
nen brauchten. Denken Sie ſich: keine Schulen,
keinen Cornelius Nepos, keine Geſchichte des Mittel¬
alters, keine Examina; blos ein paar Fechtſtunden bei
einem alten Haudegen von Knappen, der, wie der
Kloſterbruder im Nathan, der Herren gar viel gehabt
und von dem einen noch immer ein hübſcheres Schel¬
menſtückchen zu erzählen weiß, als von dem andern;
und dann etwa, wenn man Anſpruch auf höhere Bil¬
dung machte, ein paar Lectionen auf der Laute bei
einem luſtigen, fahrenden Geſellen, der voller hübſcher
Lieder und toller Schwänke ſteckt, der vor tauſend
Thüren geſungen und eben ſo viel ſchöne Mädchen
geküßt hat — das muß doch ein famoſes Leben ge¬
weſen ſein! Und vor allem dieſe Leichtigkeit der Orts¬
veränderung, dieſe unbedingte, oder höchſtens durch ein
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Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 2. Berlin, 1861, S. 186. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische02_1861/196>, abgerufen am 18.07.2024.
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