Oswald war in dem besten Zuge, sich in eine mi¬ santhropische Stimmung hineinzureden, aber der helle, leuchtende Morgen duldete die Nachtgedanken nicht. Ein Bild, das Bild einer schönen Frau, das gestern Abend, bevor der Schlummer seine Augen schloß, noch zuletzt vor seiner Seele gestanden hatte, das als ein lieber Schatten durch seine Träume geglitten war und, wie der Nachklang einer köstlichen Musik, ihn schon den ganzen Morgen umschwebt hatte, trat wieder vor seine Seele. Aber vergebens suchte er es zu bannen. Wer hätte nicht schon die Bemerkung gemacht, daß unsere Erinnerung die Gestalten ganz unbedeutender, uns voll¬ kommen gleichgültiger Menschen oft mit der kleinlichsten Genauigkeit, ohne daß wir es wollen oder wünschen, uns vorführt, und sich weigert, uns denselben Dienst, der jetzt wirklich ein Liebesdienst wäre, bei den bedeu¬ tendsten und von uns am meisten geliebten Menschen zu leisten? Ist es, daß wir so selten vermögen, diese mit unbefangenem Auge zu betrachten? ist es, daß, wo das Herz zum Herzen spricht und die Seelen in einander fließen, die Gestalt, wie ein Kleid von dem Blitz verzehrt wird? daß es des Gleichnisses, welches alles Vergängliche ist, nicht bedarf für den Geist, der das Unvergängliche, die Idee, zu erfassen versteht? -- Während Oswald nur an Melitta dachte, nur an sie
Oswald war in dem beſten Zuge, ſich in eine mi¬ ſanthropiſche Stimmung hineinzureden, aber der helle, leuchtende Morgen duldete die Nachtgedanken nicht. Ein Bild, das Bild einer ſchönen Frau, das geſtern Abend, bevor der Schlummer ſeine Augen ſchloß, noch zuletzt vor ſeiner Seele geſtanden hatte, das als ein lieber Schatten durch ſeine Träume geglitten war und, wie der Nachklang einer köſtlichen Muſik, ihn ſchon den ganzen Morgen umſchwebt hatte, trat wieder vor ſeine Seele. Aber vergebens ſuchte er es zu bannen. Wer hätte nicht ſchon die Bemerkung gemacht, daß unſere Erinnerung die Geſtalten ganz unbedeutender, uns voll¬ kommen gleichgültiger Menſchen oft mit der kleinlichſten Genauigkeit, ohne daß wir es wollen oder wünſchen, uns vorführt, und ſich weigert, uns denſelben Dienſt, der jetzt wirklich ein Liebesdienſt wäre, bei den bedeu¬ tendſten und von uns am meiſten geliebten Menſchen zu leiſten? Iſt es, daß wir ſo ſelten vermögen, dieſe mit unbefangenem Auge zu betrachten? iſt es, daß, wo das Herz zum Herzen ſpricht und die Seelen in einander fließen, die Geſtalt, wie ein Kleid von dem Blitz verzehrt wird? daß es des Gleichniſſes, welches alles Vergängliche iſt, nicht bedarf für den Geiſt, der das Unvergängliche, die Idee, zu erfaſſen verſteht? — Während Oswald nur an Melitta dachte, nur an ſie
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Oswald war in dem beſten Zuge, ſich in eine mi¬
ſanthropiſche Stimmung hineinzureden, aber der helle,
leuchtende Morgen duldete die Nachtgedanken nicht.
Ein Bild, das Bild einer ſchönen Frau, das geſtern
Abend, bevor der Schlummer ſeine Augen ſchloß, noch
zuletzt vor ſeiner Seele geſtanden hatte, das als ein
lieber Schatten durch ſeine Träume geglitten war und,
wie der Nachklang einer köſtlichen Muſik, ihn ſchon den
ganzen Morgen umſchwebt hatte, trat wieder vor ſeine
Seele. Aber vergebens ſuchte er es zu bannen. Wer
hätte nicht ſchon die Bemerkung gemacht, daß unſere
Erinnerung die Geſtalten ganz unbedeutender, uns voll¬
kommen gleichgültiger Menſchen oft mit der kleinlichſten
Genauigkeit, ohne daß wir es wollen oder wünſchen,
uns vorführt, und ſich weigert, uns denſelben Dienſt,
der jetzt wirklich ein Liebesdienſt wäre, bei den bedeu¬
tendſten und von uns am meiſten geliebten Menſchen
zu leiſten? Iſt es, daß wir ſo ſelten vermögen, dieſe
mit unbefangenem Auge zu betrachten? iſt es, daß,
wo das Herz zum Herzen ſpricht und die Seelen in
einander fließen, die Geſtalt, wie ein Kleid von dem
Blitz verzehrt wird? daß es des Gleichniſſes, welches
alles Vergängliche iſt, nicht bedarf für den Geiſt, der
das Unvergängliche, die Idee, zu erfaſſen verſteht? —
Während Oswald nur an Melitta dachte, nur an ſie
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Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 1. Berlin, 1861, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische01_1861/97>, abgerufen am 28.11.2024.
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