Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 1. Berlin, 1861.

Bild:
<< vorherige Seite

"Bin ich unfreundlich?" Der Knabe schwieg. Eine
Wolke zog über seine Stirn, seine Nasenflügel zuckten
und sein dunkelblaues Auge war wie eine Gewitter¬
wolke, als er jetzt, hastig aufblickend, sagte:

"Ich bin unfreundlich, ich weiß es. Aber wie soll
ich anders sein? Ich esse hier im Hause Gnadenbrod,
soll ich noch dafür danken? Ich kann es nicht, ich
will es nicht, und wenn sie mich aus dem Hause jagten.
Sehen Sie, Oswald, ich habe oft gewünscht, man
jagte mich fort, ja, ich habe es darauf angelegt, daß
sie es doch ja thäten; dann ginge ich in die weite
Welt und verdiente mir mein tägliches Brod, wie
tausend und tausend andere Knaben, die nicht so stark
und so muthig sind, wie ich. Heute noch, als wir
am Strande gingen, und der Dreimaster am Horizonte
auftauchte und wieder verschwand, da wünschte ich so
heiß, so heiß, ich hätte mitsegeln können, als Schiffs¬
junge, als Matrose -- nur fort, fort von hier, gleich¬
viel wohin."

Wenn so der Knabe die geheimsten Wünsche seines
Herzens rückhaltlos seinem Freunde und Lehrer offen¬
barte, da geschah es denn wohl, daß diesen ein Zweifel
beschlich, ob er, der selbst den Weg, den er zu gehen
hatte, so wenig deutlich sah, der rechte Mann sei, den
wilden, leidenschaftlichen Knaben zu leiten. Aber je

„Bin ich unfreundlich?“ Der Knabe ſchwieg. Eine
Wolke zog über ſeine Stirn, ſeine Naſenflügel zuckten
und ſein dunkelblaues Auge war wie eine Gewitter¬
wolke, als er jetzt, haſtig aufblickend, ſagte:

„Ich bin unfreundlich, ich weiß es. Aber wie ſoll
ich anders ſein? Ich eſſe hier im Hauſe Gnadenbrod,
ſoll ich noch dafür danken? Ich kann es nicht, ich
will es nicht, und wenn ſie mich aus dem Hauſe jagten.
Sehen Sie, Oswald, ich habe oft gewünſcht, man
jagte mich fort, ja, ich habe es darauf angelegt, daß
ſie es doch ja thäten; dann ginge ich in die weite
Welt und verdiente mir mein tägliches Brod, wie
tauſend und tauſend andere Knaben, die nicht ſo ſtark
und ſo muthig ſind, wie ich. Heute noch, als wir
am Strande gingen, und der Dreimaſter am Horizonte
auftauchte und wieder verſchwand, da wünſchte ich ſo
heiß, ſo heiß, ich hätte mitſegeln können, als Schiffs¬
junge, als Matroſe — nur fort, fort von hier, gleich¬
viel wohin.“

Wenn ſo der Knabe die geheimſten Wünſche ſeines
Herzens rückhaltlos ſeinem Freunde und Lehrer offen¬
barte, da geſchah es denn wohl, daß dieſen ein Zweifel
beſchlich, ob er, der ſelbſt den Weg, den er zu gehen
hatte, ſo wenig deutlich ſah, der rechte Mann ſei, den
wilden, leidenſchaftlichen Knaben zu leiten. Aber je

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0054" n="44"/>
        <p>&#x201E;Bin ich unfreundlich?&#x201C; Der Knabe &#x017F;chwieg. Eine<lb/>
Wolke zog über &#x017F;eine Stirn, &#x017F;eine Na&#x017F;enflügel zuckten<lb/>
und &#x017F;ein dunkelblaues Auge war wie eine Gewitter¬<lb/>
wolke, als er jetzt, ha&#x017F;tig aufblickend, &#x017F;agte:</p><lb/>
        <p>&#x201E;Ich bin unfreundlich, ich weiß es. Aber wie &#x017F;oll<lb/>
ich anders &#x017F;ein? Ich e&#x017F;&#x017F;e hier im Hau&#x017F;e Gnadenbrod,<lb/>
&#x017F;oll ich noch dafür danken? Ich kann es nicht, ich<lb/>
will es nicht, und wenn &#x017F;ie mich aus dem Hau&#x017F;e jagten.<lb/>
Sehen Sie, Oswald, ich habe oft gewün&#x017F;cht, man<lb/>
jagte mich fort, ja, ich habe es darauf angelegt, daß<lb/>
&#x017F;ie es doch ja thäten; dann ginge ich in die weite<lb/>
Welt und verdiente mir mein tägliches Brod, wie<lb/>
tau&#x017F;end und tau&#x017F;end andere Knaben, die nicht &#x017F;o &#x017F;tark<lb/>
und &#x017F;o muthig &#x017F;ind, wie ich. Heute noch, als wir<lb/>
am Strande gingen, und der Dreima&#x017F;ter am Horizonte<lb/>
auftauchte und wieder ver&#x017F;chwand, da wün&#x017F;chte ich &#x017F;o<lb/>
heiß, &#x017F;o heiß, ich hätte mit&#x017F;egeln können, als Schiffs¬<lb/>
junge, als Matro&#x017F;e &#x2014; nur fort, fort von hier, gleich¬<lb/>
viel wohin.&#x201C;</p><lb/>
        <p>Wenn &#x017F;o der Knabe die geheim&#x017F;ten Wün&#x017F;che &#x017F;eines<lb/>
Herzens rückhaltlos &#x017F;einem Freunde und Lehrer offen¬<lb/>
barte, da ge&#x017F;chah es denn wohl, daß die&#x017F;en ein Zweifel<lb/>
be&#x017F;chlich, ob er, der &#x017F;elb&#x017F;t den Weg, den er zu gehen<lb/>
hatte, &#x017F;o wenig deutlich &#x017F;ah, der rechte Mann &#x017F;ei, den<lb/>
wilden, leiden&#x017F;chaftlichen Knaben zu leiten. Aber je<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[44/0054] „Bin ich unfreundlich?“ Der Knabe ſchwieg. Eine Wolke zog über ſeine Stirn, ſeine Naſenflügel zuckten und ſein dunkelblaues Auge war wie eine Gewitter¬ wolke, als er jetzt, haſtig aufblickend, ſagte: „Ich bin unfreundlich, ich weiß es. Aber wie ſoll ich anders ſein? Ich eſſe hier im Hauſe Gnadenbrod, ſoll ich noch dafür danken? Ich kann es nicht, ich will es nicht, und wenn ſie mich aus dem Hauſe jagten. Sehen Sie, Oswald, ich habe oft gewünſcht, man jagte mich fort, ja, ich habe es darauf angelegt, daß ſie es doch ja thäten; dann ginge ich in die weite Welt und verdiente mir mein tägliches Brod, wie tauſend und tauſend andere Knaben, die nicht ſo ſtark und ſo muthig ſind, wie ich. Heute noch, als wir am Strande gingen, und der Dreimaſter am Horizonte auftauchte und wieder verſchwand, da wünſchte ich ſo heiß, ſo heiß, ich hätte mitſegeln können, als Schiffs¬ junge, als Matroſe — nur fort, fort von hier, gleich¬ viel wohin.“ Wenn ſo der Knabe die geheimſten Wünſche ſeines Herzens rückhaltlos ſeinem Freunde und Lehrer offen¬ barte, da geſchah es denn wohl, daß dieſen ein Zweifel beſchlich, ob er, der ſelbſt den Weg, den er zu gehen hatte, ſo wenig deutlich ſah, der rechte Mann ſei, den wilden, leidenſchaftlichen Knaben zu leiten. Aber je

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische01_1861
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische01_1861/54
Zitationshilfe: Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 1. Berlin, 1861, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische01_1861/54>, abgerufen am 24.11.2024.