Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 1. Berlin, 1861.

Bild:
<< vorherige Seite

dem dunklen, reichen Haar begraben, schien sie in tiefe
Träumereien versunken. Ein unaussprechlich rührender
Ausdruck, halb von thränenreicher Schwermuth, und
halb von unaussprechlicher Seligkeit lag auf ihren
reinen, kindlich weichen Zügen. Oswald vermochte es
kaum über sich, das einzig schöne Bild, daß sich ihm
in dem Rahmen des kleinen Fensters zeigte, zu zer¬
stören. Endlich nannte er leise ihren Namen.

Melitta hob den Kopf in die Höhe und die großen
Augen auf das Fenster heftend, lauschte sie einen Mo¬
ment. Aber dann lächelte sie wehmüthig, als wollte
sie sagen: es war nur ein Traum, und stützte das
Haupt wieder in die Hand.

"Melitta, ich bin's." --

Diesmal hatte sie es nicht geträumt. Mit einem
Freudenschrei fuhr sie empor, nach der Thür, Oswald
entgegen -- sie schlang ihren Arm um seinen Hals,
preßte ihre glühenden Lippen wieder und wieder auf
seinen Mund, sie legte ihren Kopf an seine Brust --
sie schaute durch Thränen lächelnd zu ihm auf: "Sieh
Oswald, ich dachte nur eben an Dich! ich dachte:
wenn er Dich liebt, so wird, so muß er heute kommen,
und kommt er nicht, liebt er Dich nicht. Oswald,
nicht wahr, Du liebst mich? nicht, wie ich Dich liebe,
aber doch ein wenig, nicht wahr, mein Oswald?"

dem dunklen, reichen Haar begraben, ſchien ſie in tiefe
Träumereien verſunken. Ein unausſprechlich rührender
Ausdruck, halb von thränenreicher Schwermuth, und
halb von unausſprechlicher Seligkeit lag auf ihren
reinen, kindlich weichen Zügen. Oswald vermochte es
kaum über ſich, das einzig ſchöne Bild, daß ſich ihm
in dem Rahmen des kleinen Fenſters zeigte, zu zer¬
ſtören. Endlich nannte er leiſe ihren Namen.

Melitta hob den Kopf in die Höhe und die großen
Augen auf das Fenſter heftend, lauſchte ſie einen Mo¬
ment. Aber dann lächelte ſie wehmüthig, als wollte
ſie ſagen: es war nur ein Traum, und ſtützte das
Haupt wieder in die Hand.

„Melitta, ich bin's.“ —

Diesmal hatte ſie es nicht geträumt. Mit einem
Freudenſchrei fuhr ſie empor, nach der Thür, Oswald
entgegen — ſie ſchlang ihren Arm um ſeinen Hals,
preßte ihre glühenden Lippen wieder und wieder auf
ſeinen Mund, ſie legte ihren Kopf an ſeine Bruſt —
ſie ſchaute durch Thränen lächelnd zu ihm auf: „Sieh
Oswald, ich dachte nur eben an Dich! ich dachte:
wenn er Dich liebt, ſo wird, ſo muß er heute kommen,
und kommt er nicht, liebt er Dich nicht. Oswald,
nicht wahr, Du liebſt mich? nicht, wie ich Dich liebe,
aber doch ein wenig, nicht wahr, mein Oswald?“

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0308" n="298"/>
dem dunklen, reichen Haar begraben, &#x017F;chien &#x017F;ie in tiefe<lb/>
Träumereien ver&#x017F;unken. Ein unaus&#x017F;prechlich rührender<lb/>
Ausdruck, halb von thränenreicher Schwermuth, und<lb/>
halb von unaus&#x017F;prechlicher Seligkeit lag auf ihren<lb/>
reinen, kindlich weichen Zügen. Oswald vermochte es<lb/>
kaum über &#x017F;ich, das einzig &#x017F;chöne Bild, daß &#x017F;ich ihm<lb/>
in dem Rahmen des kleinen Fen&#x017F;ters zeigte, zu zer¬<lb/>
&#x017F;tören. Endlich nannte er lei&#x017F;e ihren Namen.</p><lb/>
        <p>Melitta hob den Kopf in die Höhe und die großen<lb/>
Augen auf das Fen&#x017F;ter heftend, lau&#x017F;chte &#x017F;ie einen Mo¬<lb/>
ment. Aber dann lächelte &#x017F;ie wehmüthig, als wollte<lb/>
&#x017F;ie &#x017F;agen: es war nur ein Traum, und &#x017F;tützte das<lb/>
Haupt wieder in die Hand.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Melitta, ich bin's.&#x201C; &#x2014;</p><lb/>
        <p>Diesmal hatte &#x017F;ie es nicht geträumt. Mit einem<lb/>
Freuden&#x017F;chrei fuhr &#x017F;ie empor, nach der Thür, Oswald<lb/>
entgegen &#x2014; &#x017F;ie &#x017F;chlang ihren Arm um &#x017F;einen Hals,<lb/>
preßte ihre glühenden Lippen wieder und wieder auf<lb/>
&#x017F;einen Mund, &#x017F;ie legte ihren Kopf an &#x017F;eine Bru&#x017F;t &#x2014;<lb/>
&#x017F;ie &#x017F;chaute durch Thränen lächelnd zu ihm auf: &#x201E;Sieh<lb/>
Oswald, ich dachte nur eben an Dich! ich dachte:<lb/>
wenn er Dich liebt, &#x017F;o wird, &#x017F;o muß er heute kommen,<lb/>
und kommt er nicht, liebt er Dich nicht. Oswald,<lb/>
nicht wahr, Du lieb&#x017F;t mich? nicht, wie ich Dich liebe,<lb/>
aber doch ein wenig, nicht wahr, mein Oswald?&#x201C;<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[298/0308] dem dunklen, reichen Haar begraben, ſchien ſie in tiefe Träumereien verſunken. Ein unausſprechlich rührender Ausdruck, halb von thränenreicher Schwermuth, und halb von unausſprechlicher Seligkeit lag auf ihren reinen, kindlich weichen Zügen. Oswald vermochte es kaum über ſich, das einzig ſchöne Bild, daß ſich ihm in dem Rahmen des kleinen Fenſters zeigte, zu zer¬ ſtören. Endlich nannte er leiſe ihren Namen. Melitta hob den Kopf in die Höhe und die großen Augen auf das Fenſter heftend, lauſchte ſie einen Mo¬ ment. Aber dann lächelte ſie wehmüthig, als wollte ſie ſagen: es war nur ein Traum, und ſtützte das Haupt wieder in die Hand. „Melitta, ich bin's.“ — Diesmal hatte ſie es nicht geträumt. Mit einem Freudenſchrei fuhr ſie empor, nach der Thür, Oswald entgegen — ſie ſchlang ihren Arm um ſeinen Hals, preßte ihre glühenden Lippen wieder und wieder auf ſeinen Mund, ſie legte ihren Kopf an ſeine Bruſt — ſie ſchaute durch Thränen lächelnd zu ihm auf: „Sieh Oswald, ich dachte nur eben an Dich! ich dachte: wenn er Dich liebt, ſo wird, ſo muß er heute kommen, und kommt er nicht, liebt er Dich nicht. Oswald, nicht wahr, Du liebſt mich? nicht, wie ich Dich liebe, aber doch ein wenig, nicht wahr, mein Oswald?“

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische01_1861
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische01_1861/308
Zitationshilfe: Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 1. Berlin, 1861, S. 298. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische01_1861/308>, abgerufen am 24.11.2024.