ihm noch immer. O, diese Augen, diese zärtlich-lieb¬ kosenden, leidenschaftlichblitzenden Augen! wie zwei helle Sterne, die selbst das Frühroth nicht verlöschen kann, schimmerten sie und leuchteten sie, und verfolgten ihn allüberall. Er sah sie, wenn er die eigenen Augen schloß: er sah sie, wenn er aus dem Fenster, in dem er lehnte, in den hellen Morgenhimmel schaute; er sah sie, wenn er den Blick in die blauen Schatten senkte, die zwischen den hohen Bäumen lagen, unten in dem stillen, thaufrischen Garten. Es war ihm, als ob er sich todt weinen könnte, als ob er laut aufjauchzen müßte vor seligem Schmerz und schmerzlicher Seligkeit, als ob sein ganzes Wesen sich auflösen, wie ein Ton in der Harmonie des Alls verklingen müßte . . . Es giebt Momente, wo uns der Körper wie ein Hohn erscheint. Wir möchten fliegen und kleben an dem Boden; wir möchten das Meer von Empfindungen, das in unserer Brust wogt, in Worten ausströmen, und unsere Zunge stammelt; wir möchten ganz der Andere sein, und sind doch immer nur wir selbst. O, dies ist eine Qual, der zu vergleichen, welche der Scheintodte empfinden mag, wenn sie ihm den Sarg schmücken, und er nicht einen Finger regen, nicht die Lippen bewegen kann, um ihnen zu sagen: ich lebe ja! . . . Oswald schlich sich auf den Fußspitzen in die Kammer der Knaben; er wollte we¬
ihm noch immer. O, dieſe Augen, dieſe zärtlich-lieb¬ koſenden, leidenſchaftlichblitzenden Augen! wie zwei helle Sterne, die ſelbſt das Frühroth nicht verlöſchen kann, ſchimmerten ſie und leuchteten ſie, und verfolgten ihn allüberall. Er ſah ſie, wenn er die eigenen Augen ſchloß: er ſah ſie, wenn er aus dem Fenſter, in dem er lehnte, in den hellen Morgenhimmel ſchaute; er ſah ſie, wenn er den Blick in die blauen Schatten ſenkte, die zwiſchen den hohen Bäumen lagen, unten in dem ſtillen, thaufriſchen Garten. Es war ihm, als ob er ſich todt weinen könnte, als ob er laut aufjauchzen müßte vor ſeligem Schmerz und ſchmerzlicher Seligkeit, als ob ſein ganzes Weſen ſich auflöſen, wie ein Ton in der Harmonie des Alls verklingen müßte . . . Es giebt Momente, wo uns der Körper wie ein Hohn erſcheint. Wir möchten fliegen und kleben an dem Boden; wir möchten das Meer von Empfindungen, das in unſerer Bruſt wogt, in Worten ausſtrömen, und unſere Zunge ſtammelt; wir möchten ganz der Andere ſein, und ſind doch immer nur wir ſelbſt. O, dies iſt eine Qual, der zu vergleichen, welche der Scheintodte empfinden mag, wenn ſie ihm den Sarg ſchmücken, und er nicht einen Finger regen, nicht die Lippen bewegen kann, um ihnen zu ſagen: ich lebe ja! . . . Oswald ſchlich ſich auf den Fußſpitzen in die Kammer der Knaben; er wollte we¬
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ihm noch immer. O, dieſe Augen, dieſe zärtlich-lieb¬
koſenden, leidenſchaftlichblitzenden Augen! wie zwei helle
Sterne, die ſelbſt das Frühroth nicht verlöſchen kann,
ſchimmerten ſie und leuchteten ſie, und verfolgten ihn
allüberall. Er ſah ſie, wenn er die eigenen Augen
ſchloß: er ſah ſie, wenn er aus dem Fenſter, in dem er
lehnte, in den hellen Morgenhimmel ſchaute; er ſah ſie,
wenn er den Blick in die blauen Schatten ſenkte, die
zwiſchen den hohen Bäumen lagen, unten in dem ſtillen,
thaufriſchen Garten. Es war ihm, als ob er ſich todt
weinen könnte, als ob er laut aufjauchzen müßte vor
ſeligem Schmerz und ſchmerzlicher Seligkeit, als ob
ſein ganzes Weſen ſich auflöſen, wie ein Ton in der
Harmonie des Alls verklingen müßte . . . Es giebt
Momente, wo uns der Körper wie ein Hohn erſcheint.
Wir möchten fliegen und kleben an dem Boden; wir
möchten das Meer von Empfindungen, das in unſerer
Bruſt wogt, in Worten ausſtrömen, und unſere Zunge
ſtammelt; wir möchten ganz der Andere ſein, und ſind
doch immer nur wir ſelbſt. O, dies iſt eine Qual, der
zu vergleichen, welche der Scheintodte empfinden mag,
wenn ſie ihm den Sarg ſchmücken, und er nicht einen
Finger regen, nicht die Lippen bewegen kann, um ihnen
zu ſagen: ich lebe ja! . . . Oswald ſchlich ſich auf den
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Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 1. Berlin, 1861, S. 206. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische01_1861/216>, abgerufen am 24.11.2024.
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