"Da können Sie mir gewiß auch den Weg nach Berkow zeigen. Ist es noch weit von hier?"
"Gar nit weit, der Bub', der Cziko, soll Sie führen."
Das Weib legte die Hände an den Mund und ahmte den Ruf der Holztaube auf das täuschendste nach. Alsbald antwortete aus dem Walde ein heller Falkenschrei, und nicht lange darauf kam ein Knabe herbeigesprungen, der, wie er den Fremden erblickte, scheu und mißtrauisch unter den Bäumen stehen blieb. Einige Worte indessen, ihm von seiner Mutter in einer Oswald unbekannten Sprache zugerufen, machten ihm Muth. Er trat, Oswald das Blechgefäß mit Wasser, das er in der Hand trug, hinhaltend, furchtlos heran und sagte: "Willst Du trinken, Herr?"
Das Gefäß war nicht besonders reinlich, aber der es anbot, viel zu schön, als daß Oswald es hätte zu¬ rückweisen können, selbst wenn er weniger durstig ge¬ wesen wäre, wie er es war. Cziko war vielleicht zehn Jahre alt, aber auch er sah älter aus. Der feuchte Nebelwind, der über die herbstlichen Felder fegt, und der Schneesturm, der durch den Hagedorn saust, hatten alle Jugendfrische von des Knaben wunderbar schönem Gesicht gewischt und den tiefdunklen Gazellenaugen einen Ausdruck halb des Kummers und halb des Trotzes
„Da können Sie mir gewiß auch den Weg nach Berkow zeigen. Iſt es noch weit von hier?“
„Gar nit weit, der Bub', der Cziko, ſoll Sie führen.“
Das Weib legte die Hände an den Mund und ahmte den Ruf der Holztaube auf das täuſchendſte nach. Alsbald antwortete aus dem Walde ein heller Falkenſchrei, und nicht lange darauf kam ein Knabe herbeigeſprungen, der, wie er den Fremden erblickte, ſcheu und mißtrauiſch unter den Bäumen ſtehen blieb. Einige Worte indeſſen, ihm von ſeiner Mutter in einer Oswald unbekannten Sprache zugerufen, machten ihm Muth. Er trat, Oswald das Blechgefäß mit Waſſer, das er in der Hand trug, hinhaltend, furchtlos heran und ſagte: „Willſt Du trinken, Herr?“
Das Gefäß war nicht beſonders reinlich, aber der es anbot, viel zu ſchön, als daß Oswald es hätte zu¬ rückweiſen können, ſelbſt wenn er weniger durſtig ge¬ weſen wäre, wie er es war. Cziko war vielleicht zehn Jahre alt, aber auch er ſah älter aus. Der feuchte Nebelwind, der über die herbſtlichen Felder fegt, und der Schneeſturm, der durch den Hagedorn ſauſt, hatten alle Jugendfriſche von des Knaben wunderbar ſchönem Geſicht gewiſcht und den tiefdunklen Gazellenaugen einen Ausdruck halb des Kummers und halb des Trotzes
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„Da können Sie mir gewiß auch den Weg nach
Berkow zeigen. Iſt es noch weit von hier?“
„Gar nit weit, der Bub', der Cziko, ſoll Sie führen.“
Das Weib legte die Hände an den Mund und
ahmte den Ruf der Holztaube auf das täuſchendſte
nach. Alsbald antwortete aus dem Walde ein heller
Falkenſchrei, und nicht lange darauf kam ein Knabe
herbeigeſprungen, der, wie er den Fremden erblickte,
ſcheu und mißtrauiſch unter den Bäumen ſtehen blieb.
Einige Worte indeſſen, ihm von ſeiner Mutter in einer
Oswald unbekannten Sprache zugerufen, machten ihm
Muth. Er trat, Oswald das Blechgefäß mit Waſſer,
das er in der Hand trug, hinhaltend, furchtlos heran
und ſagte: „Willſt Du trinken, Herr?“
Das Gefäß war nicht beſonders reinlich, aber der
es anbot, viel zu ſchön, als daß Oswald es hätte zu¬
rückweiſen können, ſelbſt wenn er weniger durſtig ge¬
weſen wäre, wie er es war. Cziko war vielleicht zehn
Jahre alt, aber auch er ſah älter aus. Der feuchte
Nebelwind, der über die herbſtlichen Felder fegt, und
der Schneeſturm, der durch den Hagedorn ſauſt, hatten
alle Jugendfriſche von des Knaben wunderbar ſchönem
Geſicht gewiſcht und den tiefdunklen Gazellenaugen
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Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 1. Berlin, 1861, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische01_1861/148>, abgerufen am 24.11.2024.
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