der Pfarrer, Oswald näher rückend, in leiserem Ton. "Denn kein Mensch weiß, wo dieser Knabe lebt, ja ob er überhaupt lebt, ja nicht einmal, ob es wirklich ein Knabe oder ein Mädchen ist."
"Das ist ja eine curiose Geschichte," sagte Oswald lachend.
"Eine äußerst curiose Geschichte," sagte der geist¬ liche Herr; "eine lächerliche Geschichte, wenn Sie wollen. Denken Sie nur: der Baron Harald -- sie haben alle sonderbare Namen in der Familie -- jener un¬ bändige Mann, der zur Zeit der heiligen Behme hätte leben müssen, entbrennt in heißer Liebe zu einem armen Bürgermädchen -- ein Fall, der in seinem Leben frei¬ lich oft vorgekommen sein mag, aber niemals solche üblen Folgen hatte. Er entführt sie, halb mit Gewalt, hierher auf sein Schloß. Nach einem halben Jahre entflieht sie bei Nacht und Nebel. Ob sie ihre Schande auf dem Grunde eines unserer tiefen Moore verborgen hat, ob sie wirklich nur entflohen ist, Niemand weiß es. Der Baron ist außer sich, rasend. Er durchsucht vergebens die ganze Insel. Um seinen Gram und seine Gewissensbisse zu betäuben, trinkt und spielt und lebt er noch wilder wie gewöhnlich, so daß er denn ein Paar Wochen später im Delirium stirbt. Als man das Testament eröffnet, findet man nun, daß er in
der Pfarrer, Oswald näher rückend, in leiſerem Ton. „Denn kein Menſch weiß, wo dieſer Knabe lebt, ja ob er überhaupt lebt, ja nicht einmal, ob es wirklich ein Knabe oder ein Mädchen iſt.“
„Das iſt ja eine curioſe Geſchichte,“ ſagte Oswald lachend.
„Eine äußerſt curioſe Geſchichte,“ ſagte der geiſt¬ liche Herr; „eine lächerliche Geſchichte, wenn Sie wollen. Denken Sie nur: der Baron Harald — ſie haben alle ſonderbare Namen in der Familie — jener un¬ bändige Mann, der zur Zeit der heiligen Behme hätte leben müſſen, entbrennt in heißer Liebe zu einem armen Bürgermädchen — ein Fall, der in ſeinem Leben frei¬ lich oft vorgekommen ſein mag, aber niemals ſolche üblen Folgen hatte. Er entführt ſie, halb mit Gewalt, hierher auf ſein Schloß. Nach einem halben Jahre entflieht ſie bei Nacht und Nebel. Ob ſie ihre Schande auf dem Grunde eines unſerer tiefen Moore verborgen hat, ob ſie wirklich nur entflohen iſt, Niemand weiß es. Der Baron iſt außer ſich, raſend. Er durchſucht vergebens die ganze Inſel. Um ſeinen Gram und ſeine Gewiſſensbiſſe zu betäuben, trinkt und ſpielt und lebt er noch wilder wie gewöhnlich, ſo daß er denn ein Paar Wochen ſpäter im Delirium ſtirbt. Als man das Teſtament eröffnet, findet man nun, daß er in
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der Pfarrer, Oswald näher rückend, in leiſerem Ton.
„Denn kein Menſch weiß, wo dieſer Knabe lebt, ja
ob er überhaupt lebt, ja nicht einmal, ob es wirklich
ein Knabe oder ein Mädchen iſt.“
„Das iſt ja eine curioſe Geſchichte,“ ſagte Oswald
lachend.
„Eine äußerſt curioſe Geſchichte,“ ſagte der geiſt¬
liche Herr; „eine lächerliche Geſchichte, wenn Sie wollen.
Denken Sie nur: der Baron Harald — ſie haben
alle ſonderbare Namen in der Familie — jener un¬
bändige Mann, der zur Zeit der heiligen Behme hätte
leben müſſen, entbrennt in heißer Liebe zu einem armen
Bürgermädchen — ein Fall, der in ſeinem Leben frei¬
lich oft vorgekommen ſein mag, aber niemals ſolche
üblen Folgen hatte. Er entführt ſie, halb mit Gewalt,
hierher auf ſein Schloß. Nach einem halben Jahre
entflieht ſie bei Nacht und Nebel. Ob ſie ihre Schande
auf dem Grunde eines unſerer tiefen Moore verborgen
hat, ob ſie wirklich nur entflohen iſt, Niemand weiß
es. Der Baron iſt außer ſich, raſend. Er durchſucht
vergebens die ganze Inſel. Um ſeinen Gram und
ſeine Gewiſſensbiſſe zu betäuben, trinkt und ſpielt und
lebt er noch wilder wie gewöhnlich, ſo daß er denn
ein Paar Wochen ſpäter im Delirium ſtirbt. Als man
das Teſtament eröffnet, findet man nun, daß er in
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Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 1. Berlin, 1861, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische01_1861/118>, abgerufen am 27.11.2024.
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