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Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 4. 3. Aufl. Halle (Saale), 1715.

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ARTIC. VI. SECTIO II.
der, in der ordnung bleibende, noch viel gutes ausrichten könte, verlustig zu wer-
den, und darmit nicht allein die gegenwärtige gelegenheit der erbauung zu verlieren,
sondern sich auch in den stand zu setzen, zu keiner andern gemeinde leicht jemal mehr
beruffen zu werden. Solte wol dieses mit der liebe des nechsten, zu dessen besten er
seine gaben empfangen, übereinkommen? Paulus wolte aus liebe vor seine brü-
der von CHristo verbannet werden, Rom. IX. 3. und wir wolten nicht unter der last
aushalten, da eine gefahr der seelen uns obschwebet, zu dero übernehmung uns die
liebe der brüder bewegen solte: da uns gleichwol die güte unsers treuen heylandes ver-
sichert, daß wir einmal um der ursache willen unsere seele nimmer verlieren sollen,
da wir aus wahrer liebe ohne absicht auf unser eigenes in solcher gefahr wehemüthig
aushalten. Will er also die anklage des gewissens itzo scheuen, und dahero bey ei-
ner dergleichen resolution bleiben, so hat er billig zu gedencken, ob nicht die ankla-
ge des gewissens schwerer, und zu seiner zeit dieses hefftiger aufwachen werde, wann
er gedencket, sich in den stand gesetzt zu haben, daß er insgesamt wenig mehr zu der
kirchen erbauung zu thun vermöge. Solte nicht das gewissen aus einiger ver-
anlassung in die angst gerathen, in die sünde jenes knechts verfallen zu seyn, der aus
ansehen, daß sein herr ein harter mann seye, und allzuviel fodere, sein pfund vergraben
hat? Wann die absicht, daß GOtt von unserm amte eine solche schwere rechenschafft
fordere, und so vieles von uns ausgerichtet haben wolle, ihn dahin bringet, daß er
dergleichen thut, wodurch er in den stand zu kommen vor augen siehet, daß sein
pfund vergraben bleiben muß. Diese anklage, sorge ich, könne viel hefftiger quä-
len, als die jetzige angst thun mag. Jch setze darzu 2. das grosse ärgernüß, das durch
diese unnöthige sonderlichkeit gegeben wird: ich will nicht alleine sagen von seiner ge-
meinde sondern auch bey andern die es hören. Und zwar werden sich ärgern zum
fördersten die böse und lästerer des guten, daß sie glauben, gnugsamen grund zu
haben sich diesem noch mit mehrerem eiffer und gewalt, als bisher geschehen, zu
widersetzen, da man nun wieder neue schlimme früchte sehe, wohin es endlich mit
denjenigen verfalle, die nicht bey dem gemeinen schlendrian bleiben. Es werden
sich ferner ärgern andere gute gemüther, die schwach sind, und dergleichen begin-
nen unmüglich mit göttlicher ordnung reymen können, daher auch mit widrigen
affecten gegen das werck des HErrn eingenommen werden. Ja es werden sich är-
gern auch andere verständige rechtschaffene seelen, die gnugsam durchschauen, was
vor schaden hieraus entstehe, daß ob sie sich unter GOttes hand demüthigen, der
auch durch dieses gerichte seinen auf uns ligenden zorn zeige, sie doch hertzlich drüber
seuffzen, und eines mit-bruders, der seine sicherheit der gemeinen wohlfarth vorzie-
he, beginnen nicht billigen können. Worzu 3. kommt, daß dieses aufs neue die
sache des so genanten pietismi, oder vielmehr trachtung nach besserung, sehr nie-
dergeschlagen wird. Wie insgesamt derselben durch die öffentliche feinde, dero
schrifften, widerspruch und lästern bey weiten bisher so vieler schaden nicht gesche-
hen
IV. Theil. t t t t
ARTIC. VI. SECTIO II.
der, in der ordnung bleibende, noch viel gutes ausrichten koͤnte, verluſtig zu wer-
den, und darmit nicht allein die gegenwaͤrtige gelegenheit der erbauung zu verlieren,
ſondern ſich auch in den ſtand zu ſetzen, zu keiner andern gemeinde leicht jemal mehr
beruffen zu werden. Solte wol dieſes mit der liebe des nechſten, zu deſſen beſten er
ſeine gaben empfangen, uͤbereinkommen? Paulus wolte aus liebe vor ſeine bruͤ-
der von CHriſto verbannet werden, Rom. IX. 3. und wir wolten nicht unter der laſt
aushalten, da eine gefahr der ſeelen uns obſchwebet, zu dero uͤbernehmung uns die
liebe der bruͤder bewegen ſolte: da uns gleichwol die guͤte unſeꝛs tꝛeuen heylandes veꝛ-
ſichert, daß wir einmal um der urſache willen unſere ſeele nimmer verlieren ſollen,
da wir aus wahrer liebe ohne abſicht auf unſer eigenes in ſolcher gefahꝛ wehemuͤthig
aushalten. Will er alſo die anklage des gewiſſens itzo ſcheuen, und dahero bey ei-
ner dergleichen reſolution bleiben, ſo hat er billig zu gedencken, ob nicht die ankla-
ge des gewiſſens ſchwerer, und zu ſeiner zeit dieſes hefftiger aufwachen werde, wann
er gedencket, ſich in den ſtand geſetzt zu haben, daß er insgeſamt wenig mehr zu der
kirchen erbauung zu thun vermoͤge. Solte nicht das gewiſſen aus einiger ver-
anlaſſung in die angſt gerathen, in die ſuͤnde jenes knechts verfallen zu ſeyn, der aus
anſehen, daß ſein herr ein harter mann ſeye, und allzuviel fodere, ſein pfund vergꝛaben
hat? Wann die abſicht, daß GOtt von unſerm amte eine ſolche ſchwere rechenſchafft
fordere, und ſo vieles von uns ausgerichtet haben wolle, ihn dahin bringet, daß er
dergleichen thut, wodurch er in den ſtand zu kommen vor augen ſiehet, daß ſein
pfund vergraben bleiben muß. Dieſe anklage, ſorge ich, koͤnne viel hefftiger quaͤ-
len, als die jetzige angſt thun mag. Jch ſetze darzu 2. das groſſe aͤrgernuͤß, das durch
dieſe unnoͤthige ſonderlichkeit gegeben wird: ich will nicht alleine ſagen von ſeiner ge-
meinde ſondern auch bey andern die es hoͤren. Und zwar werden ſich aͤrgern zum
foͤrderſten die boͤſe und laͤſterer des guten, daß ſie glauben, gnugſamen grund zu
haben ſich dieſem noch mit mehrerem eiffer und gewalt, als bisher geſchehen, zu
widerſetzen, da man nun wieder neue ſchlimme fruͤchte ſehe, wohin es endlich mit
denjenigen verfalle, die nicht bey dem gemeinen ſchlendrian bleiben. Es werden
ſich ferner aͤrgern andere gute gemuͤther, die ſchwach ſind, und dergleichen begin-
nen unmuͤglich mit goͤttlicher ordnung reymen koͤnnen, daher auch mit widrigen
affecten gegen das werck des HErrn eingenommen werden. Ja es werden ſich aͤr-
gern auch andere verſtaͤndige rechtſchaffene ſeelen, die gnugſam durchſchauen, was
vor ſchaden hieraus entſtehe, daß ob ſie ſich unter GOttes hand demuͤthigen, der
auch durch dieſes gerichte ſeinen auf uns ligenden zorn zeige, ſie doch hertzlich druͤber
ſeuffzen, und eines mit-bruders, der ſeine ſicherheit der gemeinen wohlfarth vorzie-
he, beginnen nicht billigen koͤnnen. Worzu 3. kommt, daß dieſes aufs neue die
ſache des ſo genanten pietiſmi, oder vielmehr trachtung nach beſſerung, ſehr nie-
dergeſchlagen wird. Wie insgeſamt derſelben durch die oͤffentliche feinde, dero
ſchrifften, widerſpruch und laͤſtern bey weiten bisher ſo vieler ſchaden nicht geſche-
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IV. Theil. t t t t
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[697/0709] ARTIC. VI. SECTIO II. der, in der ordnung bleibende, noch viel gutes ausrichten koͤnte, verluſtig zu wer- den, und darmit nicht allein die gegenwaͤrtige gelegenheit der erbauung zu verlieren, ſondern ſich auch in den ſtand zu ſetzen, zu keiner andern gemeinde leicht jemal mehr beruffen zu werden. Solte wol dieſes mit der liebe des nechſten, zu deſſen beſten er ſeine gaben empfangen, uͤbereinkommen? Paulus wolte aus liebe vor ſeine bruͤ- der von CHriſto verbannet werden, Rom. IX. 3. und wir wolten nicht unter der laſt aushalten, da eine gefahr der ſeelen uns obſchwebet, zu dero uͤbernehmung uns die liebe der bruͤder bewegen ſolte: da uns gleichwol die guͤte unſeꝛs tꝛeuen heylandes veꝛ- ſichert, daß wir einmal um der urſache willen unſere ſeele nimmer verlieren ſollen, da wir aus wahrer liebe ohne abſicht auf unſer eigenes in ſolcher gefahꝛ wehemuͤthig aushalten. Will er alſo die anklage des gewiſſens itzo ſcheuen, und dahero bey ei- ner dergleichen reſolution bleiben, ſo hat er billig zu gedencken, ob nicht die ankla- ge des gewiſſens ſchwerer, und zu ſeiner zeit dieſes hefftiger aufwachen werde, wann er gedencket, ſich in den ſtand geſetzt zu haben, daß er insgeſamt wenig mehr zu der kirchen erbauung zu thun vermoͤge. Solte nicht das gewiſſen aus einiger ver- anlaſſung in die angſt gerathen, in die ſuͤnde jenes knechts verfallen zu ſeyn, der aus anſehen, daß ſein herr ein harter mann ſeye, und allzuviel fodere, ſein pfund vergꝛaben hat? Wann die abſicht, daß GOtt von unſerm amte eine ſolche ſchwere rechenſchafft fordere, und ſo vieles von uns ausgerichtet haben wolle, ihn dahin bringet, daß er dergleichen thut, wodurch er in den ſtand zu kommen vor augen ſiehet, daß ſein pfund vergraben bleiben muß. Dieſe anklage, ſorge ich, koͤnne viel hefftiger quaͤ- len, als die jetzige angſt thun mag. Jch ſetze darzu 2. das groſſe aͤrgernuͤß, das durch dieſe unnoͤthige ſonderlichkeit gegeben wird: ich will nicht alleine ſagen von ſeiner ge- meinde ſondern auch bey andern die es hoͤren. Und zwar werden ſich aͤrgern zum foͤrderſten die boͤſe und laͤſterer des guten, daß ſie glauben, gnugſamen grund zu haben ſich dieſem noch mit mehrerem eiffer und gewalt, als bisher geſchehen, zu widerſetzen, da man nun wieder neue ſchlimme fruͤchte ſehe, wohin es endlich mit denjenigen verfalle, die nicht bey dem gemeinen ſchlendrian bleiben. Es werden ſich ferner aͤrgern andere gute gemuͤther, die ſchwach ſind, und dergleichen begin- nen unmuͤglich mit goͤttlicher ordnung reymen koͤnnen, daher auch mit widrigen affecten gegen das werck des HErrn eingenommen werden. Ja es werden ſich aͤr- gern auch andere verſtaͤndige rechtſchaffene ſeelen, die gnugſam durchſchauen, was vor ſchaden hieraus entſtehe, daß ob ſie ſich unter GOttes hand demuͤthigen, der auch durch dieſes gerichte ſeinen auf uns ligenden zorn zeige, ſie doch hertzlich druͤber ſeuffzen, und eines mit-bruders, der ſeine ſicherheit der gemeinen wohlfarth vorzie- he, beginnen nicht billigen koͤnnen. Worzu 3. kommt, daß dieſes aufs neue die ſache des ſo genanten pietiſmi, oder vielmehr trachtung nach beſſerung, ſehr nie- dergeſchlagen wird. Wie insgeſamt derſelben durch die oͤffentliche feinde, dero ſchrifften, widerſpruch und laͤſtern bey weiten bisher ſo vieler ſchaden nicht geſche- hen IV. Theil. t t t t

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Zitationshilfe: Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 4. 3. Aufl. Halle (Saale), 1715, S. 697. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken04_1702/709>, abgerufen am 23.11.2024.