SECTIO XLVII. Von dem leben unter fremden/ auch von furcht des todes/ und prüffung derselben.
WAs im übrigen von einigen zustand berichtet und geklagt wird, bestehet vornemlich in zweyen stücken. Das erste ist, daß dieselbe allerdings frem- de an ihrem ort lebe, und sich unglücklich deswegen achte. Es wird mir aber dieselbe vergönnen, daß ich die folge nicht wol zugeben kan, sondern so ich offt gesehen, wo ich diejenige, welche einzel ihres orts als landfremd gelebet, wann sie nur zu ihrer pflege die nöthige mittel gehabt, und diejenige, welche unter den ihri- gen und grosser freundschafft gewohnet, mit einander verglichen habe, daß sich ge- meiniglich jene erste glücklicher befunden: denn ob nicht ohn, daß diese letztere von ihren freunden manchmal auch einige liebesdienste genossen, so bey jener nicht seyn konte, haben doch diese gemeiniglich hinwieder von den ihrigen wol so viel unge- mach und verdruß auch einzunehmen gehabt, daß ihr vermeinter vortheil ziemlich wiedrum verderbet worden. Hingegen fremde, da sie sich nur nach eigener wahl freunde gemacht haben, sich bey derselben freundschafft besser als bey bluts- freunden gefunden. Jedoch glaube auch insgesamt, daß sich hierinnen nichts ge- wisses schliessen lasse, sondern jeglichem derjenige beruff am besten seye, wie ihn der HERR beruffen hat. Die andere klage ist wichtiger, da geliebte Schwester die prüffung des hertzens so schwer findet, und jetzo mehr forcht vor dem tod, als vor deme fühlet. Nun ist an dem, daß wir freylich unsre prüffung fleißig und offt anstellen, aber allezeit wol acht geben, daß wir uns weder auf eine noch andre seite verstossen mögen. Auf einer seite verstossen sich diejenige, so sie allein gesetzlich anstellen, und das evangelium aus den augen setzen, daher von ihrem gnaden-stand nach dem maaß ihrer heiligung oder dero mangel urtheilen, da sie in der gnade CHristi und dessen versöhnung allein ihr heyl suchen und erkennen, und wo es vor GOTTES gericht gehen solle, nichts als von ihrem Heyland wissen solten. Denn wo dieses nicht geschiehet, und wir bleiben an dem gesetz kleben, ist unmög- lich, daß das hertz nicht in stäter unruhe schweben müsse, darüber wol müglich, daß man endlich gar den glauben verliehren möchte: sonderlich entsetzet man sich in solchem stand vor dem tod, oder vielmehr dem folgenden göttlichen gericht. Diesem fehler nun zu begegnen ist kein ander mittel, als daß man unsere heyls-lehre des evangelii, wie wir nicht mit unsrer heiligung vor GOTT be-
ste-
ARTIC. V. SECTIO XLVII.
SECTIO XLVII. Von dem leben unter fremden/ auch von furcht des todes/ und pruͤffung derſelben.
WAs im uͤbrigen von einigen zuſtand berichtet und geklagt wird, beſtehet vornemlich in zweyen ſtuͤcken. Das erſte iſt, daß dieſelbe allerdings frem- de an ihrem ort lebe, und ſich ungluͤcklich deswegen achte. Es wird mir aber dieſelbe vergoͤnnen, daß ich die folge nicht wol zugeben kan, ſondern ſo ich offt geſehen, wo ich diejenige, welche einzel ihres orts als landfremd gelebet, wann ſie nur zu ihrer pflege die noͤthige mittel gehabt, und diejenige, welche unter den ihri- gen und groſſer freundſchafft gewohnet, mit einander verglichen habe, daß ſich ge- meiniglich jene erſte gluͤcklicher befunden: denn ob nicht ohn, daß dieſe letztere von ihren freunden manchmal auch einige liebesdienſte genoſſen, ſo bey jener nicht ſeyn konte, haben doch dieſe gemeiniglich hinwieder von den ihrigen wol ſo viel unge- mach und verdruß auch einzunehmen gehabt, daß ihr vermeinter vortheil ziemlich wiedrum verderbet worden. Hingegen fremde, da ſie ſich nur nach eigener wahl freunde gemacht haben, ſich bey derſelben freundſchafft beſſer als bey bluts- freunden gefunden. Jedoch glaube auch insgeſamt, daß ſich hierinnen nichts ge- wiſſes ſchlieſſen laſſe, ſondern jeglichem derjenige beruff am beſten ſeye, wie ihn der HERR beruffen hat. Die andere klage iſt wichtiger, da geliebte Schweſter die pruͤffung des hertzens ſo ſchwer findet, und jetzo mehr forcht vor dem tod, als vor deme fuͤhlet. Nun iſt an dem, daß wir freylich unſre pruͤffung fleißig und offt anſtellen, aber allezeit wol acht geben, daß wir uns weder auf eine noch andre ſeite verſtoſſen moͤgen. Auf einer ſeite verſtoſſen ſich diejenige, ſo ſie allein geſetzlich anſtellen, und das evangelium aus den augen ſetzen, daher von ihrem gnaden-ſtand nach dem maaß ihrer heiligung oder dero mangel urtheilen, da ſie in der gnade CHriſti und deſſen verſoͤhnung allein ihr heyl ſuchen und erkennen, und wo es vor GOTTES gericht gehen ſolle, nichts als von ihrem Heyland wiſſen ſolten. Denn wo dieſes nicht geſchiehet, und wir bleiben an dem geſetz kleben, iſt unmoͤg- lich, daß das hertz nicht in ſtaͤter unruhe ſchweben muͤſſe, daruͤber wol muͤglich, daß man endlich gar den glauben verliehren moͤchte: ſonderlich entſetzet man ſich in ſolchem ſtand vor dem tod, oder vielmehr dem folgenden goͤttlichen gericht. Dieſem fehler nun zu begegnen iſt kein ander mittel, als daß man unſere heyls-lehre des evangelii, wie wir nicht mit unſrer heiligung vor GOTT be-
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ARTIC. V. SECTIO XLVII.
SECTIO XLVII.
Von dem leben unter fremden/ auch von furcht
des todes/ und pruͤffung derſelben.
WAs im uͤbrigen von einigen zuſtand berichtet und geklagt wird, beſtehet
vornemlich in zweyen ſtuͤcken. Das erſte iſt, daß dieſelbe allerdings frem-
de an ihrem ort lebe, und ſich ungluͤcklich deswegen achte. Es wird mir
aber dieſelbe vergoͤnnen, daß ich die folge nicht wol zugeben kan, ſondern ſo ich offt
geſehen, wo ich diejenige, welche einzel ihres orts als landfremd gelebet, wann ſie
nur zu ihrer pflege die noͤthige mittel gehabt, und diejenige, welche unter den ihri-
gen und groſſer freundſchafft gewohnet, mit einander verglichen habe, daß ſich ge-
meiniglich jene erſte gluͤcklicher befunden: denn ob nicht ohn, daß dieſe letztere von
ihren freunden manchmal auch einige liebesdienſte genoſſen, ſo bey jener nicht ſeyn
konte, haben doch dieſe gemeiniglich hinwieder von den ihrigen wol ſo viel unge-
mach und verdruß auch einzunehmen gehabt, daß ihr vermeinter vortheil ziemlich
wiedrum verderbet worden. Hingegen fremde, da ſie ſich nur nach eigener wahl
freunde gemacht haben, ſich bey derſelben freundſchafft beſſer als bey bluts-
freunden gefunden. Jedoch glaube auch insgeſamt, daß ſich hierinnen nichts ge-
wiſſes ſchlieſſen laſſe, ſondern jeglichem derjenige beruff am beſten ſeye, wie ihn der
HERR beruffen hat. Die andere klage iſt wichtiger, da geliebte Schweſter
die pruͤffung des hertzens ſo ſchwer findet, und jetzo mehr forcht vor dem tod, als
vor deme fuͤhlet. Nun iſt an dem, daß wir freylich unſre pruͤffung fleißig und offt
anſtellen, aber allezeit wol acht geben, daß wir uns weder auf eine noch andre ſeite
verſtoſſen moͤgen. Auf einer ſeite verſtoſſen ſich diejenige, ſo ſie allein geſetzlich
anſtellen, und das evangelium aus den augen ſetzen, daher von ihrem gnaden-ſtand
nach dem maaß ihrer heiligung oder dero mangel urtheilen, da ſie in der gnade
CHriſti und deſſen verſoͤhnung allein ihr heyl ſuchen und erkennen, und wo es vor
GOTTES gericht gehen ſolle, nichts als von ihrem Heyland wiſſen ſolten.
Denn wo dieſes nicht geſchiehet, und wir bleiben an dem geſetz kleben, iſt unmoͤg-
lich, daß das hertz nicht in ſtaͤter unruhe ſchweben muͤſſe, daruͤber wol muͤglich, daß
man endlich gar den glauben verliehren moͤchte: ſonderlich entſetzet man ſich
in ſolchem ſtand vor dem tod, oder vielmehr dem folgenden goͤttlichen gericht.
Dieſem fehler nun zu begegnen iſt kein ander mittel, als daß man unſere
heyls-lehre des evangelii, wie wir nicht mit unſrer heiligung vor GOTT be-
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Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 4. 3. Aufl. Halle (Saale), 1715, S. 647. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken04_1702/659>, abgerufen am 22.11.2024.
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