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Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 4. 3. Aufl. Halle (Saale), 1715.

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ARTIC. V. SECTIO XV.

BEsser spät als niemal, mag es itzt auch bey mir heissen, da ich auf dessen bey-
de von 20. jun. und 17. Octobr. nechsten jahres antworte. Gleichwol ver-
sehe mich zu seiner liebe, daß solche mir auch ohne mit vielen worten gesuch-
te entschuldigung freundlich den verzug zu gut halten werde: wozu mich eines theils
im übrigen gebracht die vielheit der vorgelegten materien, welche eine mehrere zeit
erfordert, dazu man nicht eben allezeit die weil finden kan, andern theils auch dasje-
nige darinnen sicherer gemacht, daß davor gehalten, es seyen lauter dinge, da ge-
liebter Bruder davon, ob die antwort später käme, keinen nachtheil leiden, sondern
diese zu einer zeit so gut als zur andern kommen würde. Jch gehe aber so bald zu
den beyden brieffen selbs. Jn dem ersten hat mich gleich erstlich erfreuet dessen liebes
zeugnüß, daß mein wercklein von Natur und Gnade nicht eben gantz unfrucht-
bar seye, sondern nach meinem vertrauen zu GOtt, in dessen forcht und anruffung
solches geschrieben, einigen segen habe, indem derselbe selbs dadurch aufgemun-
tert zu seyn von sich schreibet. Dem HErrn sey preiß, von dem alle solche krafft her-
kommet, der wolle noch ferner seine wahrheit erfüllen, nachdem er verheissen hat,
daß sein wort nie leer zurücke kommen solle. Das stäte bestreben nach der voll-
kommenheit
ist freylich so wol ein stück, so zu unserm christenthum nothwendig ist,
als die einbildung der vollkommenheit sonsten bey uns alles übrige gute verderben
könte. Wie ich dann davor halte, man habe sich so wol in dieser sache als in allen
andern in der theorie und praxi vor beyden extremis zu hüten, daß man weder
alle vollkommenheit in diesem leben bey widergebohrnen christen verläugne, dero ih-
nen doch in der schrifft nechst den vielfältigen vermahnungen nicht nur einmal zeug-
nüß gegeben wird, und damit bey sich und andern den fleiß nach derselben zu trach-
ten mit grossen schaden niderschlage, noch anderseits durch eingebildete solche voll-
kommenheit, in dero man vor GOtt bestehen könte, und dero doch dieses leben in
dem fleisch noch nicht fähig ist, einen geistlichen hochmuth bey sich und andern hege,
GOttes gnade dadurch von sich stosse, und also so viel weiter von der wahren voll-
kommenheit sich entferne. Die mittelstrasse bleibet wie in allen stücken, also auch
hierinnen die beste: doch solte man sagen, daß man bey itziger der gemüther zustand
sich fast mehr vor dem fehler deren zu hüten habe, welche einen solchen eckel an dem
von dem Heil. Geist selbs weißlich gebrauchten, und in unserer Augspurgischen con-
fession
widerholten wort der vollkommenheit haben, daß sie davon nicht hören wol-
len, und mit verläugnung aller vollkommenheit die leute so fern rechtschaffen sicher
machen, und von allem fleiß des wachsthums abziehen: als von der andern einbil-
dung, vor dero zu dieser zeit wenigere einige gefahr haben. Was meine zu Leipzig
gehaltene predigt anlangt, dancke auch dem geber aller guten gaben, daß er seinem
wort in vielen hertzen eine durchtringende krafft gegeben habe, die bekennen müssen,
daß sie dadurch gerühret worden. Er lasse es noch ferner allezeit kräfftig seyn, und

wo
ARTIC. V. SECTIO XV.

BEſſer ſpaͤt als niemal, mag es itzt auch bey mir heiſſen, da ich auf deſſen bey-
de von 20. jun. und 17. Octobr. nechſten jahres antworte. Gleichwol veꝛ-
ſehe mich zu ſeiner liebe, daß ſolche mir auch ohne mit vielen worten geſuch-
te entſchuldigung freundlich den verzug zu gut halten werde: wozu mich eines theils
im uͤbrigen gebracht die vielheit der vorgelegten materien, welche eine mehrere zeit
erfordert, dazu man nicht eben allezeit die weil finden kan, andern theils auch dasje-
nige darinnen ſicherer gemacht, daß davor gehalten, es ſeyen lauter dinge, da ge-
liebter Bruder davon, ob die antwort ſpaͤter kaͤme, keinen nachtheil leiden, ſondern
dieſe zu einer zeit ſo gut als zur andern kommen wuͤrde. Jch gehe aber ſo bald zu
den beyden brieffen ſelbs. Jn dem erſten hat mich gleich erſtlich erfreuet deſſen liebes
zeugnuͤß, daß mein wercklein von Natur und Gnade nicht eben gantz unfrucht-
bar ſeye, ſondern nach meinem vertrauen zu GOtt, in deſſen forcht und anruffung
ſolches geſchrieben, einigen ſegen habe, indem derſelbe ſelbs dadurch aufgemun-
tert zu ſeyn von ſich ſchreibet. Dem HErrn ſey preiß, von dem alle ſolche krafft her-
kommet, der wolle noch ferner ſeine wahrheit erfuͤllen, nachdem er verheiſſen hat,
daß ſein wort nie leer zuruͤcke kommen ſolle. Das ſtaͤte beſtreben nach der voll-
kommenheit
iſt freylich ſo wol ein ſtuͤck, ſo zu unſerm chriſtenthum nothwendig iſt,
als die einbildung der vollkommenheit ſonſten bey uns alles uͤbrige gute verderben
koͤnte. Wie ich dann davor halte, man habe ſich ſo wol in dieſer ſache als in allen
andern in der theorie und praxi vor beyden extremis zu huͤten, daß man weder
alle vollkommenheit in dieſem leben bey widergebohrnen chriſten verlaͤugne, dero ih-
nen doch in der ſchrifft nechſt den vielfaͤltigen vermahnungen nicht nur einmal zeug-
nuͤß gegeben wird, und damit bey ſich und andern den fleiß nach derſelben zu trach-
ten mit groſſen ſchaden niderſchlage, noch anderſeits durch eingebildete ſolche voll-
kommenheit, in dero man vor GOtt beſtehen koͤnte, und dero doch dieſes leben in
dem fleiſch noch nicht faͤhig iſt, einen geiſtlichen hochmuth bey ſich und andern hege,
GOttes gnade dadurch von ſich ſtoſſe, und alſo ſo viel weiter von der wahren voll-
kommenheit ſich entferne. Die mittelſtraſſe bleibet wie in allen ſtuͤcken, alſo auch
hierinnen die beſte: doch ſolte man ſagen, daß man bey itziger der gemuͤther zuſtand
ſich faſt mehr vor dem fehler deren zu huͤten habe, welche einen ſolchen eckel an dem
von dem Heil. Geiſt ſelbs weißlich gebꝛauchten, und in unſerer Augſpuꝛgiſchen con-
feſſion
widerholten wort deꝛ vollkommenheit haben, daß ſie davon nicht hoͤꝛen wol-
len, und mit verlaͤugnung aller vollkommenheit die leute ſo fern rechtſchaffen ſicher
machen, und von allem fleiß des wachsthums abziehen: als von der andern einbil-
dung, vor dero zu dieſer zeit wenigere einige gefahr haben. Was meine zu Leipzig
gehaltene predigt anlangt, dancke auch dem geber aller guten gaben, daß er ſeinem
wort in vielen hertzen eine durchtringende krafft gegeben habe, die bekennen muͤſſen,
daß ſie dadurch geruͤhret worden. Er laſſe es noch ferner allezeit kraͤfftig ſeyn, und

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[567/0579] ARTIC. V. SECTIO XV. BEſſer ſpaͤt als niemal, mag es itzt auch bey mir heiſſen, da ich auf deſſen bey- de von 20. jun. und 17. Octobr. nechſten jahres antworte. Gleichwol veꝛ- ſehe mich zu ſeiner liebe, daß ſolche mir auch ohne mit vielen worten geſuch- te entſchuldigung freundlich den verzug zu gut halten werde: wozu mich eines theils im uͤbrigen gebracht die vielheit der vorgelegten materien, welche eine mehrere zeit erfordert, dazu man nicht eben allezeit die weil finden kan, andern theils auch dasje- nige darinnen ſicherer gemacht, daß davor gehalten, es ſeyen lauter dinge, da ge- liebter Bruder davon, ob die antwort ſpaͤter kaͤme, keinen nachtheil leiden, ſondern dieſe zu einer zeit ſo gut als zur andern kommen wuͤrde. Jch gehe aber ſo bald zu den beyden brieffen ſelbs. Jn dem erſten hat mich gleich erſtlich erfreuet deſſen liebes zeugnuͤß, daß mein wercklein von Natur und Gnade nicht eben gantz unfrucht- bar ſeye, ſondern nach meinem vertrauen zu GOtt, in deſſen forcht und anruffung ſolches geſchrieben, einigen ſegen habe, indem derſelbe ſelbs dadurch aufgemun- tert zu ſeyn von ſich ſchreibet. Dem HErrn ſey preiß, von dem alle ſolche krafft her- kommet, der wolle noch ferner ſeine wahrheit erfuͤllen, nachdem er verheiſſen hat, daß ſein wort nie leer zuruͤcke kommen ſolle. Das ſtaͤte beſtreben nach der voll- kommenheit iſt freylich ſo wol ein ſtuͤck, ſo zu unſerm chriſtenthum nothwendig iſt, als die einbildung der vollkommenheit ſonſten bey uns alles uͤbrige gute verderben koͤnte. Wie ich dann davor halte, man habe ſich ſo wol in dieſer ſache als in allen andern in der theorie und praxi vor beyden extremis zu huͤten, daß man weder alle vollkommenheit in dieſem leben bey widergebohrnen chriſten verlaͤugne, dero ih- nen doch in der ſchrifft nechſt den vielfaͤltigen vermahnungen nicht nur einmal zeug- nuͤß gegeben wird, und damit bey ſich und andern den fleiß nach derſelben zu trach- ten mit groſſen ſchaden niderſchlage, noch anderſeits durch eingebildete ſolche voll- kommenheit, in dero man vor GOtt beſtehen koͤnte, und dero doch dieſes leben in dem fleiſch noch nicht faͤhig iſt, einen geiſtlichen hochmuth bey ſich und andern hege, GOttes gnade dadurch von ſich ſtoſſe, und alſo ſo viel weiter von der wahren voll- kommenheit ſich entferne. Die mittelſtraſſe bleibet wie in allen ſtuͤcken, alſo auch hierinnen die beſte: doch ſolte man ſagen, daß man bey itziger der gemuͤther zuſtand ſich faſt mehr vor dem fehler deren zu huͤten habe, welche einen ſolchen eckel an dem von dem Heil. Geiſt ſelbs weißlich gebꝛauchten, und in unſerer Augſpuꝛgiſchen con- feſſion widerholten wort deꝛ vollkommenheit haben, daß ſie davon nicht hoͤꝛen wol- len, und mit verlaͤugnung aller vollkommenheit die leute ſo fern rechtſchaffen ſicher machen, und von allem fleiß des wachsthums abziehen: als von der andern einbil- dung, vor dero zu dieſer zeit wenigere einige gefahr haben. Was meine zu Leipzig gehaltene predigt anlangt, dancke auch dem geber aller guten gaben, daß er ſeinem wort in vielen hertzen eine durchtringende krafft gegeben habe, die bekennen muͤſſen, daß ſie dadurch geruͤhret worden. Er laſſe es noch ferner allezeit kraͤfftig ſeyn, und wo

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Zitationshilfe: Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 4. 3. Aufl. Halle (Saale), 1715, S. 567. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken04_1702/579>, abgerufen am 22.11.2024.