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Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 4. 3. Aufl. Halle (Saale), 1715.

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ARTIC. I. SECTIO III.
und des nechsten auch andern Christen vieles in solcher pflicht so aufleget
als vergönnet/ so sündigen sie auch nicht/ wo sie ihren nechsten zu seinem
besten urtheilen/ ja weil auch die zuhörer sich vor den falschen propheten
hüten sollen/ und sich von brüdern/ die unordentlich wandeln/ abthun/ so
müssen sie wer solche seyn/ urtheilen dörffen/ und können. Nur ist wol in
acht zu nehmen/ daß das urtheil/ gleich wie es aus rechten bewegenden ur-
sachen der liebe geschehen muß/ in der art gleichfals nach der liebe u. war-
heit regul geschehe. So ist uns nun verboten von dem nechsten zu urthei-
len/ was das künfftige anlanget/ und haben wir nicht macht den allergott-
losesten menschen vor gewiß verdammt zu achten (es wäre dann sach/ daß
wir jemand der sünde in den heiligen Geist ohnzweiffentlich beschuldigen
könten/ welches wie es zu geschehen vermöge/ etwa eine schwerere sache ist/
und ich davon mein urtheil nicht geben könte) indem es möglich ist/ daß die
gnade GOttes ein zeugnüß ihrer gedult/ langmuth und mitleydens an
demselben erzeigen wolte/ und ihn auf eine art/ die ich und du nicht vorse-
hen können/ zu der erkäntnüß und buß bringen würde/ daß wir aus dem
ansehen des gegenwärtigen vermessentlich/ und mit einem eingriff in die
göttliche regierung/ dero das künfftige bloß allein unterworffen/ vor
verdamt verurtheilt hätten: Sondern alles urtheil muß gehen auf das
vergangene und gegenwärtige/ auf das künfftige aber nicht anders als
conditionate, wo er in solchem leben fortfahren würde/ oder mit bedro-
hung/ daß göttliche gnadenzeit nicht allezeit bis auf den tod des menschen
sich erstrecke/ sondern offt diejenige sünder/ so göttlicher gütigkeit eine
zeitlang gespottet/ in das gericht der verstockung gegeben werden/ vor
welchem solche leute treulich zu warnen/ und ihnen die gefahr solches
standes und göttlicher gerechtigkeit strenge vor augen zu stellen ist/ ja
ich wolte auch den eyffer des jenigen nicht unbilligen/ welcher wo er einen
solchen menschen vor sich hat/ der freventlich GOTTES gespottet/ und
auf andere warnungen nichts gegeben/ dabey sich noch gantz sicher auf
göttliche gnade beruffet/ da er denselben erinnerte/ daß er sorgte/ er sey im
nechsten grad und bey solchem Göttlichen gericht/ und nehme bereits
einige vorboten desselben bey ihm wahr/ daher es hohe zeit wäre/ ehe
das urtheil völlig über ihn ausbreche/ die noch besorglich das letzte mal
anbietende gnade anzunehmen. Hiernechst hat man sich zu hüten/ daß
man anders urtheile von dem menschen/ als aus der regul die CHRJ-
STUS selbst gegeben/ an der frucht den baum zu erkennen/ an der lie-
be seine jünger/ und an seinem gehorsam seine schaafe zu prüffen: A-
ber auch in applicirung solcher regul bescheiden/ liebreich und vorsichtig
zu verfahren/ so dann von einem menschen nicht so wol aus einer oder an-
dern action als dem gantzen tenore dieses lebens zu urtheilen/ zum exem-

pel
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ARTIC. I. SECTIO III.
und des nechſten auch andern Chriſten vieles in ſolcher pflicht ſo aufleget
als vergoͤnnet/ ſo ſuͤndigen ſie auch nicht/ wo ſie ihren nechſten zu ſeinem
beſten urtheilen/ ja weil auch die zuhoͤrer ſich vor den falſchen propheten
huͤten ſollen/ und ſich von bruͤdern/ die unordentlich wandeln/ abthun/ ſo
muͤſſen ſie wer ſolche ſeyn/ urtheilen doͤrffen/ und koͤnnen. Nur iſt wol in
acht zu nehmen/ daß das urtheil/ gleich wie es aus rechten bewegenden ur-
ſachen der liebe geſchehen muß/ in der art gleichfals nach der liebe u. war-
heit regul geſchehe. So iſt uns nun verboten von dem nechſten zu urthei-
len/ was das kuͤnfftige anlanget/ und haben wir nicht macht den allergott-
loſeſten menſchen vor gewiß verdammt zu achten (es waͤre dann ſach/ daß
wir jemand der ſuͤnde in den heiligen Geiſt ohnzweiffentlich beſchuldigen
koͤnten/ welches wie es zu geſchehen vermoͤge/ etwa eine ſchwerere ſache iſt/
und ich davon mein urtheil nicht geben koͤnte) indem es moͤglich iſt/ daß die
gnade GOttes ein zeugnuͤß ihrer gedult/ langmuth und mitleydens an
demſelben erzeigen wolte/ und ihn auf eine art/ die ich und du nicht vorſe-
hen koͤnnen/ zu der erkaͤntnuͤß und buß bringen wuͤrde/ daß wir aus dem
anſehen des gegenwaͤrtigen vermeſſentlich/ und mit einem eingriff in die
goͤttliche regierung/ dero das kuͤnfftige bloß allein unterworffen/ vor
verdamt verurtheilt haͤtten: Sondern alles urtheil muß gehen auf das
vergangene und gegenwaͤrtige/ auf das kuͤnfftige aber nicht anders als
conditionate, wo er in ſolchem leben fortfahren wuͤrde/ oder mit bedro-
hung/ daß goͤttliche gnadenzeit nicht allezeit bis auf den tod des menſchen
ſich erſtrecke/ ſondern offt diejenige ſuͤnder/ ſo goͤttlicher guͤtigkeit eine
zeitlang geſpottet/ in das gericht der verſtockung gegeben werden/ vor
welchem ſolche leute treulich zu warnen/ und ihnen die gefahr ſolches
ſtandes und goͤttlicher gerechtigkeit ſtrenge vor augen zu ſtellen iſt/ ja
ich wolte auch den eyffer des jenigen nicht unbilligen/ welcher wo er einen
ſolchen menſchen vor ſich hat/ der freventlich GOTTES geſpottet/ und
auf andere warnungen nichts gegeben/ dabey ſich noch gantz ſicher auf
goͤttliche gnade beruffet/ da er denſelben erinnerte/ daß er ſorgte/ er ſey im
nechſten grad und bey ſolchem Goͤttlichen gericht/ und nehme bereits
einige vorboten deſſelben bey ihm wahr/ daher es hohe zeit waͤre/ ehe
das urtheil voͤllig uͤber ihn ausbreche/ die noch beſorglich das letzte mal
anbietende gnade anzunehmen. Hiernechſt hat man ſich zu huͤten/ daß
man anders urtheile von dem menſchen/ als aus der regul die CHRJ-
STUS ſelbſt gegeben/ an der frucht den baum zu erkennen/ an der lie-
be ſeine juͤnger/ und an ſeinem gehorſam ſeine ſchaafe zu pruͤffen: A-
ber auch in applicirung ſolcher regul beſcheiden/ liebreich und vorſichtig
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dern action als dem gantzen tenore dieſes lebens zu urtheilen/ zum exem-

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[21/0033] ARTIC. I. SECTIO III. und des nechſten auch andern Chriſten vieles in ſolcher pflicht ſo aufleget als vergoͤnnet/ ſo ſuͤndigen ſie auch nicht/ wo ſie ihren nechſten zu ſeinem beſten urtheilen/ ja weil auch die zuhoͤrer ſich vor den falſchen propheten huͤten ſollen/ und ſich von bruͤdern/ die unordentlich wandeln/ abthun/ ſo muͤſſen ſie wer ſolche ſeyn/ urtheilen doͤrffen/ und koͤnnen. Nur iſt wol in acht zu nehmen/ daß das urtheil/ gleich wie es aus rechten bewegenden ur- ſachen der liebe geſchehen muß/ in der art gleichfals nach der liebe u. war- heit regul geſchehe. So iſt uns nun verboten von dem nechſten zu urthei- len/ was das kuͤnfftige anlanget/ und haben wir nicht macht den allergott- loſeſten menſchen vor gewiß verdammt zu achten (es waͤre dann ſach/ daß wir jemand der ſuͤnde in den heiligen Geiſt ohnzweiffentlich beſchuldigen koͤnten/ welches wie es zu geſchehen vermoͤge/ etwa eine ſchwerere ſache iſt/ und ich davon mein urtheil nicht geben koͤnte) indem es moͤglich iſt/ daß die gnade GOttes ein zeugnuͤß ihrer gedult/ langmuth und mitleydens an demſelben erzeigen wolte/ und ihn auf eine art/ die ich und du nicht vorſe- hen koͤnnen/ zu der erkaͤntnuͤß und buß bringen wuͤrde/ daß wir aus dem anſehen des gegenwaͤrtigen vermeſſentlich/ und mit einem eingriff in die goͤttliche regierung/ dero das kuͤnfftige bloß allein unterworffen/ vor verdamt verurtheilt haͤtten: Sondern alles urtheil muß gehen auf das vergangene und gegenwaͤrtige/ auf das kuͤnfftige aber nicht anders als conditionate, wo er in ſolchem leben fortfahren wuͤrde/ oder mit bedro- hung/ daß goͤttliche gnadenzeit nicht allezeit bis auf den tod des menſchen ſich erſtrecke/ ſondern offt diejenige ſuͤnder/ ſo goͤttlicher guͤtigkeit eine zeitlang geſpottet/ in das gericht der verſtockung gegeben werden/ vor welchem ſolche leute treulich zu warnen/ und ihnen die gefahr ſolches ſtandes und goͤttlicher gerechtigkeit ſtrenge vor augen zu ſtellen iſt/ ja ich wolte auch den eyffer des jenigen nicht unbilligen/ welcher wo er einen ſolchen menſchen vor ſich hat/ der freventlich GOTTES geſpottet/ und auf andere warnungen nichts gegeben/ dabey ſich noch gantz ſicher auf goͤttliche gnade beruffet/ da er denſelben erinnerte/ daß er ſorgte/ er ſey im nechſten grad und bey ſolchem Goͤttlichen gericht/ und nehme bereits einige vorboten deſſelben bey ihm wahr/ daher es hohe zeit waͤre/ ehe das urtheil voͤllig uͤber ihn ausbreche/ die noch beſorglich das letzte mal anbietende gnade anzunehmen. Hiernechſt hat man ſich zu huͤten/ daß man anders urtheile von dem menſchen/ als aus der regul die CHRJ- STUS ſelbſt gegeben/ an der frucht den baum zu erkennen/ an der lie- be ſeine juͤnger/ und an ſeinem gehorſam ſeine ſchaafe zu pruͤffen: A- ber auch in applicirung ſolcher regul beſcheiden/ liebreich und vorſichtig zu verfahren/ ſo dann von einem menſchen nicht ſo wol aus einer oder an- dern action als dem gantzen tenore dieſes lebens zu urtheilen/ zum exem- pel c 3

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Zitationshilfe: Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 4. 3. Aufl. Halle (Saale), 1715, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken04_1702/33>, abgerufen am 22.11.2024.