Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 4. 3. Aufl. Halle (Saale), 1715.

Bild:
<< vorherige Seite

Das siebende Capitel.
heit der heiligung vorgeworffen werden, solches damit ablehnen, daß nicht
gesagt werde, was wir seyn könten, sondern was wir seyn solten) so ist voch
am einfältigsten, daß wir sie also nehmen, daß der HERR darinnen zeigen
wolle, was wir seyn sollen, und in göttlicher gnade zu seyn vermögen,
wie auch die vorige pflichten von liebe der feinde und dergleichen müglich sind,
an denen diese hänget. 2. Liget es eigenlich daran, was vor eine vollkom-
menheit
verstanden werde, da kan nun ohne allen zweiffel nicht diejenige
vollkommenheit in GOTT verstanden werden, wie wir insgemein das
wort vollkommenheit verstehen, daß damit bedeutet würde alle die heilig-
keit und gerechtigkeit, welche in GOTT im höchsten grad ist. Dann die-
se kommet keinem Engel und uns auch in der seligen ewigkeit nicht zu, in dem
immerdar unter der unendlichen güte GOTT es und der endlichen güte einer
creatur, und also unter eines und der andern vollkommenheit, ein unend-
licher unterschied warhafftig bleibet. Ja wir mögen sagen, solche voll-
kommenheit könne von keiner creatur erfodert werden, indem es der höchsten
Majestät GOTTes zu nabe geredt wäre, daß ihr eine creatur gleich seyn
solte oder könte. Also muß hie das wort vollkommen gar etwas anders
nemlich eine gewisse eigenschafft bedeuten. Unser judiciöse lehrer Chem-
nitius
in der harmonie erklärets nach der art des Hebräischen worts
tm vollkommen, das nicht gestümmelt sondern gantz ist, in dem ver-
stand, wir solten wie unser himmlischer vater gute und böse, gerechte und un-
gerechte, lieben und allen guts thun, auch also vollkommen in der liebe seyn,
daß wir nicht nur liebreich, und gütig gegen einige leute gesinnet wären, an-
dere aber von der liebe ausschlössen, sondern daß eine völlige, über alle
menschen gehende, liebe da seyn müßte. Welche erklärung von unserm Lu-
thero entlehnet sehr fein ist, und damit überein kommt, wann hingegen beym
Luca stehet: Seyd barmhertzig, wie euer vater im himmel barm-
hertzig ist.
Unser autor sihet auf die unterschiedliche übersetzungen des
wörtleins tm bey unserm Luthero, der es bald fromm bald schlecht,
bald ohne wandel gibet: Also erfodert er von christen diese drey stück,
frömmigkeit des hertzens, schlechtigkeit und demuth in geberden, und ohne
wandel zu seyn in dem leben: welche stück niemand leugnen wird, daß sie
bey einem christen seyn sollen und können. Da sagt er endlich, wer diese an
sich habe, der seye vollkommen, weil eben ein wort die vollkommenheit und
solche drey absonderliche tugenden bedeutet. Er gedencket aber absonder-
lich, daß wir alsdann vollkommen seyn wie GOTT in dem himmel, Vater,
Sohn und heiliger Geist, weil von GOTT dem vater die frömmigkeit son-
derlich gerühmet wird, an Christo in seiner angenommenen menschheit die de-

muth

Das ſiebende Capitel.
heit der heiligung vorgeworffen werden, ſolches damit ablehnen, daß nicht
geſagt werde, was wir ſeyn koͤnten, ſondern was wir ſeyn ſolten) ſo iſt voch
am einfaͤltigſten, daß wir ſie alſo nehmen, daß der HERR darinnen zeigen
wolle, was wir ſeyn ſollen, und in goͤttlicher gnade zu ſeyn vermoͤgen,
wie auch die vorige pflichten von liebe der feinde und dergleichen muͤglich ſind,
an denen dieſe haͤnget. 2. Liget es eigenlich daran, was vor eine vollkom-
menheit
verſtanden werde, da kan nun ohne allen zweiffel nicht diejenige
vollkommenheit in GOTT verſtanden werden, wie wir insgemein das
wort vollkommenheit verſtehen, daß damit bedeutet wuͤrde alle die heilig-
keit und gerechtigkeit, welche in GOTT im hoͤchſten grad iſt. Dann die-
ſe kommet keinem Engel und uns auch in der ſeligen ewigkeit nicht zu, in dem
immerdar unter der unendlichen guͤte GOTT es und der endlichen guͤte einer
creatur, und alſo unter eines und der andern vollkommenheit, ein unend-
licher unterſchied warhafftig bleibet. Ja wir moͤgen ſagen, ſolche voll-
kommenheit koͤnne von keiner creatur erfodert werden, indem es der hoͤchſten
Majeſtaͤt GOTTes zu nabe geredt waͤre, daß ihr eine creatur gleich ſeyn
ſolte oder koͤnte. Alſo muß hie das wort vollkommen gar etwas anders
nemlich eine gewiſſe eigenſchafft bedeuten. Unſer judiciöſe lehrer Chem-
nitius
in der harmonie erklaͤrets nach der art des Hebraͤiſchen worts
תם vollkommen, das nicht geſtuͤmmelt ſondern gantz iſt, in dem ver-
ſtand, wir ſolten wie unſer himmliſcher vater gute und boͤſe, gerechte und un-
gerechte, lieben und allen guts thun, auch alſo vollkommen in der liebe ſeyn,
daß wir nicht nur liebreich, und guͤtig gegen einige leute geſinnet waͤren, an-
dere aber von der liebe ausſchloͤſſen, ſondern daß eine voͤllige, uͤber alle
menſchen gehende, liebe da ſeyn muͤßte. Welche erklaͤrung von unſerm Lu-
thero entlehnet ſehr fein iſt, und damit uͤberein kommt, wann hingegen beym
Luca ſtehet: Seyd barmhertzig, wie euer vater im himmel barm-
hertzig iſt.
Unſer autor ſihet auf die unterſchiedliche uͤberſetzungen des
woͤrtleins תם bey unſerm Luthero, der es bald fromm bald ſchlecht,
bald ohne wandel gibet: Alſo erfodert er von chriſten dieſe drey ſtuͤck,
froͤmmigkeit des hertzens, ſchlechtigkeit und demuth in geberden, und ohne
wandel zu ſeyn in dem leben: welche ſtuͤck niemand leugnen wird, daß ſie
bey einem chriſten ſeyn ſollen und koͤnnen. Da ſagt er endlich, wer dieſe an
ſich habe, der ſeye vollkommen, weil eben ein wort die vollkommenheit und
ſolche drey abſonderliche tugenden bedeutet. Er gedencket aber abſonder-
lich, daß wir alsdann vollkommen ſeyn wie GOTT in dem himmel, Vater,
Sohn und heiliger Geiſt, weil von GOTT dem vater die froͤmmigkeit ſon-
derlich geruͤhmet wird, an Chriſto in ſeiner angenommenen menſchheit die de-

muth
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0116" n="104"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Das &#x017F;iebende Capitel.</hi></fw><lb/>
heit der heiligung vorgeworffen werden, &#x017F;olches damit ablehnen, daß nicht<lb/>
ge&#x017F;agt werde, was wir &#x017F;eyn ko&#x0364;nten, &#x017F;ondern was wir &#x017F;eyn &#x017F;olten) &#x017F;o i&#x017F;t voch<lb/>
am einfa&#x0364;ltig&#x017F;ten, daß wir &#x017F;ie al&#x017F;o nehmen, daß der HERR darinnen zeigen<lb/>
wolle, was wir &#x017F;eyn &#x017F;ollen, und in go&#x0364;ttlicher gnade zu &#x017F;eyn vermo&#x0364;gen,<lb/>
wie auch die vorige pflichten von liebe der feinde und dergleichen mu&#x0364;glich &#x017F;ind,<lb/>
an denen die&#x017F;e ha&#x0364;nget. 2. Liget es eigenlich daran, was vor eine <hi rendition="#fr">vollkom-<lb/>
menheit</hi> ver&#x017F;tanden werde, da kan nun ohne allen zweiffel nicht diejenige<lb/>
vollkommenheit in GOTT ver&#x017F;tanden werden, wie wir insgemein das<lb/>
wort vollkommenheit ver&#x017F;tehen, daß damit bedeutet wu&#x0364;rde alle die heilig-<lb/>
keit und gerechtigkeit, welche in GOTT im ho&#x0364;ch&#x017F;ten grad i&#x017F;t. Dann die-<lb/>
&#x017F;e kommet keinem Engel und uns auch in der &#x017F;eligen ewigkeit nicht zu, in dem<lb/>
immerdar unter der unendlichen gu&#x0364;te GOTT es und der endlichen gu&#x0364;te einer<lb/>
creatur, und al&#x017F;o unter eines und der andern vollkommenheit, ein unend-<lb/>
licher unter&#x017F;chied warhafftig bleibet. Ja wir mo&#x0364;gen &#x017F;agen, &#x017F;olche voll-<lb/>
kommenheit ko&#x0364;nne von keiner creatur erfodert werden, indem es der ho&#x0364;ch&#x017F;ten<lb/>
Maje&#x017F;ta&#x0364;t GOTTes zu nabe geredt wa&#x0364;re, daß ihr eine creatur gleich &#x017F;eyn<lb/>
&#x017F;olte oder ko&#x0364;nte. Al&#x017F;o muß hie das wort <hi rendition="#fr">vollkommen</hi> gar etwas anders<lb/>
nemlich eine gewi&#x017F;&#x017F;e eigen&#x017F;chafft bedeuten. Un&#x017F;er <hi rendition="#aq">judiciö&#x017F;e</hi> lehrer <hi rendition="#aq">Chem-<lb/>
nitius</hi> in der harmonie erkla&#x0364;rets nach der art des Hebra&#x0364;i&#x017F;chen worts<lb/>
&#x05EA;&#x05DD; <hi rendition="#fr">vollkommen,</hi> das nicht ge&#x017F;tu&#x0364;mmelt &#x017F;ondern gantz i&#x017F;t, in dem ver-<lb/>
&#x017F;tand, wir &#x017F;olten wie un&#x017F;er himmli&#x017F;cher vater gute und bo&#x0364;&#x017F;e, gerechte und un-<lb/>
gerechte, lieben und allen guts thun, auch al&#x017F;o vollkommen in der liebe &#x017F;eyn,<lb/>
daß wir nicht nur liebreich, und gu&#x0364;tig gegen einige leute ge&#x017F;innet wa&#x0364;ren, an-<lb/>
dere aber von der liebe aus&#x017F;chlo&#x0364;&#x017F;&#x017F;en, &#x017F;ondern daß eine vo&#x0364;llige, u&#x0364;ber alle<lb/>
men&#x017F;chen gehende, liebe da &#x017F;eyn mu&#x0364;ßte. Welche erkla&#x0364;rung von un&#x017F;erm Lu-<lb/>
thero entlehnet &#x017F;ehr fein i&#x017F;t, und damit u&#x0364;berein kommt, wann hingegen beym<lb/>
Luca &#x017F;tehet: <hi rendition="#fr">Seyd barmhertzig, wie euer vater im himmel barm-<lb/>
hertzig i&#x017F;t.</hi> Un&#x017F;er <hi rendition="#aq">autor</hi> &#x017F;ihet auf die unter&#x017F;chiedliche u&#x0364;ber&#x017F;etzungen des<lb/>
wo&#x0364;rtleins &#x05EA;&#x05DD; bey un&#x017F;erm Luthero, der es bald <hi rendition="#fr">fromm</hi> bald <hi rendition="#fr">&#x017F;chlecht,</hi><lb/>
bald <hi rendition="#fr">ohne wandel</hi> gibet: Al&#x017F;o erfodert er von chri&#x017F;ten die&#x017F;e drey &#x017F;tu&#x0364;ck,<lb/>
fro&#x0364;mmigkeit des hertzens, &#x017F;chlechtigkeit und demuth in geberden, und ohne<lb/>
wandel zu &#x017F;eyn in dem leben: welche &#x017F;tu&#x0364;ck niemand leugnen wird, daß &#x017F;ie<lb/>
bey einem chri&#x017F;ten &#x017F;eyn &#x017F;ollen und ko&#x0364;nnen. Da &#x017F;agt er endlich, wer die&#x017F;e an<lb/>
&#x017F;ich habe, der &#x017F;eye vollkommen, weil eben ein wort die vollkommenheit und<lb/>
&#x017F;olche drey ab&#x017F;onderliche tugenden bedeutet. Er gedencket aber ab&#x017F;onder-<lb/>
lich, daß wir alsdann vollkommen &#x017F;eyn wie GOTT in dem himmel, Vater,<lb/>
Sohn und heiliger Gei&#x017F;t, weil von GOTT dem vater die fro&#x0364;mmigkeit &#x017F;on-<lb/>
derlich geru&#x0364;hmet wird, an Chri&#x017F;to in &#x017F;einer angenommenen men&#x017F;chheit die de-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">muth</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[104/0116] Das ſiebende Capitel. heit der heiligung vorgeworffen werden, ſolches damit ablehnen, daß nicht geſagt werde, was wir ſeyn koͤnten, ſondern was wir ſeyn ſolten) ſo iſt voch am einfaͤltigſten, daß wir ſie alſo nehmen, daß der HERR darinnen zeigen wolle, was wir ſeyn ſollen, und in goͤttlicher gnade zu ſeyn vermoͤgen, wie auch die vorige pflichten von liebe der feinde und dergleichen muͤglich ſind, an denen dieſe haͤnget. 2. Liget es eigenlich daran, was vor eine vollkom- menheit verſtanden werde, da kan nun ohne allen zweiffel nicht diejenige vollkommenheit in GOTT verſtanden werden, wie wir insgemein das wort vollkommenheit verſtehen, daß damit bedeutet wuͤrde alle die heilig- keit und gerechtigkeit, welche in GOTT im hoͤchſten grad iſt. Dann die- ſe kommet keinem Engel und uns auch in der ſeligen ewigkeit nicht zu, in dem immerdar unter der unendlichen guͤte GOTT es und der endlichen guͤte einer creatur, und alſo unter eines und der andern vollkommenheit, ein unend- licher unterſchied warhafftig bleibet. Ja wir moͤgen ſagen, ſolche voll- kommenheit koͤnne von keiner creatur erfodert werden, indem es der hoͤchſten Majeſtaͤt GOTTes zu nabe geredt waͤre, daß ihr eine creatur gleich ſeyn ſolte oder koͤnte. Alſo muß hie das wort vollkommen gar etwas anders nemlich eine gewiſſe eigenſchafft bedeuten. Unſer judiciöſe lehrer Chem- nitius in der harmonie erklaͤrets nach der art des Hebraͤiſchen worts תם vollkommen, das nicht geſtuͤmmelt ſondern gantz iſt, in dem ver- ſtand, wir ſolten wie unſer himmliſcher vater gute und boͤſe, gerechte und un- gerechte, lieben und allen guts thun, auch alſo vollkommen in der liebe ſeyn, daß wir nicht nur liebreich, und guͤtig gegen einige leute geſinnet waͤren, an- dere aber von der liebe ausſchloͤſſen, ſondern daß eine voͤllige, uͤber alle menſchen gehende, liebe da ſeyn muͤßte. Welche erklaͤrung von unſerm Lu- thero entlehnet ſehr fein iſt, und damit uͤberein kommt, wann hingegen beym Luca ſtehet: Seyd barmhertzig, wie euer vater im himmel barm- hertzig iſt. Unſer autor ſihet auf die unterſchiedliche uͤberſetzungen des woͤrtleins תם bey unſerm Luthero, der es bald fromm bald ſchlecht, bald ohne wandel gibet: Alſo erfodert er von chriſten dieſe drey ſtuͤck, froͤmmigkeit des hertzens, ſchlechtigkeit und demuth in geberden, und ohne wandel zu ſeyn in dem leben: welche ſtuͤck niemand leugnen wird, daß ſie bey einem chriſten ſeyn ſollen und koͤnnen. Da ſagt er endlich, wer dieſe an ſich habe, der ſeye vollkommen, weil eben ein wort die vollkommenheit und ſolche drey abſonderliche tugenden bedeutet. Er gedencket aber abſonder- lich, daß wir alsdann vollkommen ſeyn wie GOTT in dem himmel, Vater, Sohn und heiliger Geiſt, weil von GOTT dem vater die froͤmmigkeit ſon- derlich geruͤhmet wird, an Chriſto in ſeiner angenommenen menſchheit die de- muth

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken04_1702
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken04_1702/116
Zitationshilfe: Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 4. 3. Aufl. Halle (Saale), 1715, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken04_1702/116>, abgerufen am 24.11.2024.