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Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 3. Halle (Saale), 1702.

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ARTIC. I. DISTINCTIO I. SECTIO X.
auch über sie/ vielgeliebte schwester/ dasjenige zu diesem und allen folgenden jahren
mildigst ausgiessen was wir deroselben aus einfältigen hertzen anwünschen/ zum al-
lerfordersten/ daß die liebe GOttes/ gleich wie sie in erneurung zeitlicher dinge sich
hervor thut/ also auch mit täglicher erneurung des göttlichen ebenbildes in ihrer und
unser aller seelen/ als ein liechtlein der ewigkeit gewiedmet/ je länger je kräffti-
ger sich erzeigen/ und uns tüchtig machen wolle/ daß wir an dem grossen tag der all-
gemeinen erneurung gleichfalls zu der neuen welt und statt unseres GOttes/ zu der
seligen ewigkeit/ mögen erneuret werden. Amen. Die führende klage/ wie es an
dem leben mehr als an lehrern bey unsere kirchen mangle/ und viele nicht verstehen/
daß das reich GOttes nicht in worten sondern der krafft bestehe/ ist billig/ wichtig
und eben diejenige/ welche alle führen/ denen das heuchel wesen jetziger zeit und die
in demselben steckende entheiligung göttlichen nahmens schmertzlich zu hertzen gehet:
Also daß auch unser/ der prediger/ meiste sorge anjetzo billig diese seyn muß/ unsern
zuhörern recht wohl einzubilden/ daß sie verstehen/ was die krafft des seligmachen-
den glaubens seye/ und wie derselbe nicht in einem menschlichen gedancken/ den wir
aus unserer vernunfft fassen könten/ sondern in göttlicher erleuchtung bestehe/ wel-
che wie den verstand mit lebendiger erkäntnüß erfüllet/ also den willen und gantzen
menschen zu einem andern machet: Daß dannenhero alle die jenige mitten in der
den rechten glauben bekennenden kirchen befindliche und den äusserlichen gottes-
dienst mit verrichtende menschen/ welche aber nicht durch solchen wahren und über
aller menschen vermögen gehenden glauben wahrhafftig wiedergebohren sind/ und
in solcher neuen geburth einher gehen/ in der that ungläubig seynd/ und vor GOtt
in viel schwehrer verdamnüß ligen als die jenige/ die auch dem buchstaben des glau-
bens nie erkant haben; damit doch den leuten der so tieff steckende wahn/ als ob die
äusserliche bekantnüß des glaubens/ und so äusserlicher gebrauch der göttlichen
gnaden-mittel (ob man schon deroselben krafft widerstrebet) als weltlich erbarer
wandel dem Christenthum gnugthäten/ und uns selig macheten/ benommen/ und
der schlaff der sicherheit aus den augen gewischet würde. Wovon ich einmahl in
2. predigten gehandelt/ und da ich wissen solte/ daß dieselbe solche wenige blätlein/
die folgends getruckt worden/ zu lesen beliebten/ zu diesen zweck communiciren
würde/ zuzeigen/ wie ich hierinnen mit deroselben aus göttlichem worte einerley
gedancken führe. Jn dessen aber mag anderer schein-Christenthum/ die die krafft
der wahren göttseligkeit leugnen/ anderer hertzliche begierde ihrem GOTT recht
zugefallen und ohne falsch ihm zu dienen/ nicht hindern/ sondern mitten unter an-
dern unschlachtigen und verkehrten geschlecht erhält sie ihr vater als seine kinder un-
sträff ich/ und lässt sie als ein liecht vor andern leuchten/ daß durch sie andere auch
zum erkäntnüß gebracht/ oder ja durch dero exempel unentschuldbar gemacht wer-
den. So haben auch die ort/ wo göttliches wort gleichwohl lauter und rein ge-
predigt ob schon dessen erbauung durch böses exempel vieler zuhörer/ auch etwan der

predi-

ARTIC. I. DISTINCTIO I. SECTIO X.
auch uͤber ſie/ vielgeliebte ſchweſter/ dasjenige zu dieſem und allen folgenden jahren
mildigſt ausgieſſen was wir deroſelben aus einfaͤltigen hertzen anwuͤnſchen/ zum al-
lerforderſten/ daß die liebe GOttes/ gleich wie ſie in erneurung zeitlicher dinge ſich
hervor thut/ alſo auch mit taͤglicher erneurung des goͤttlichen ebenbildes in ihrer und
unſer aller ſeelen/ als ein liechtlein der ewigkeit gewiedmet/ je laͤnger je kraͤffti-
ger ſich erzeigen/ und uns tuͤchtig machen wolle/ daß wir an dem groſſen tag der all-
gemeinen erneurung gleichfalls zu der neuen welt und ſtatt unſeres GOttes/ zu der
ſeligen ewigkeit/ moͤgen erneuret werden. Amen. Die fuͤhrende klage/ wie es an
dem leben mehr als an lehrern bey unſere kirchen mangle/ und viele nicht verſtehen/
daß das reich GOttes nicht in worten ſondern der krafft beſtehe/ iſt billig/ wichtig
und eben diejenige/ welche alle fuͤhren/ denen das heuchel weſen jetziger zeit und die
in demſelben ſteckende entheiligung goͤttlichen nahmens ſchmertzlich zu hertzen gehet:
Alſo daß auch unſer/ der prediger/ meiſte ſorge anjetzo billig dieſe ſeyn muß/ unſern
zuhoͤrern recht wohl einzubilden/ daß ſie verſtehen/ was die krafft des ſeligmachen-
den glaubens ſeye/ und wie derſelbe nicht in einem menſchlichen gedancken/ den wir
aus unſerer vernunfft faſſen koͤnten/ ſondern in goͤttlicher erleuchtung beſtehe/ wel-
che wie den verſtand mit lebendiger erkaͤntnuͤß erfuͤllet/ alſo den willen und gantzen
menſchen zu einem andern machet: Daß dannenhero alle die jenige mitten in der
den rechten glauben bekennenden kirchen befindliche und den aͤuſſerlichen gottes-
dienſt mit verrichtende menſchen/ welche aber nicht durch ſolchen wahren und uͤber
aller menſchen vermoͤgen gehenden glauben wahrhafftig wiedergebohren ſind/ und
in ſolcher neuen geburth einher gehen/ in der that unglaͤubig ſeynd/ und vor GOtt
in viel ſchwehrer verdamnuͤß ligen als die jenige/ die auch dem buchſtaben des glau-
bens nie erkant haben; damit doch den leuten der ſo tieff ſteckende wahn/ als ob die
aͤuſſerliche bekantnuͤß des glaubens/ und ſo aͤuſſerlicher gebrauch der goͤttlichen
gnaden-mittel (ob man ſchon deroſelben krafft widerſtrebet) als weltlich erbarer
wandel dem Chriſtenthum gnugthaͤten/ und uns ſelig macheten/ benommen/ und
der ſchlaff der ſicherheit aus den augen gewiſchet wuͤrde. Wovon ich einmahl in
2. predigten gehandelt/ und da ich wiſſen ſolte/ daß dieſelbe ſolche wenige blaͤtlein/
die folgends getruckt worden/ zu leſen beliebten/ zu dieſen zweck communiciren
wuͤrde/ zuzeigen/ wie ich hierinnen mit deroſelben aus goͤttlichem worte einerley
gedancken fuͤhre. Jn deſſen aber mag anderer ſchein-Chriſtenthum/ die die krafft
der wahren goͤttſeligkeit leugnen/ anderer hertzliche begierde ihrem GOTT recht
zugefallen und ohne falſch ihm zu dienen/ nicht hindern/ ſondern mitten unter an-
dern unſchlachtigen und verkehrten geſchlecht erhaͤlt ſie ihr vater als ſeine kinder un-
ſtraͤff ich/ und laͤſſt ſie als ein liecht vor andern leuchten/ daß durch ſie andere auch
zum erkaͤntnuͤß gebracht/ oder ja durch dero exempel unentſchuldbar gemacht wer-
den. So haben auch die ort/ wo goͤttliches wort gleichwohl lauter und rein ge-
predigt ob ſchon deſſen erbauung durch boͤſes exempel vieler zuhoͤrer/ auch etwan der

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[71/0089] ARTIC. I. DISTINCTIO I. SECTIO X. auch uͤber ſie/ vielgeliebte ſchweſter/ dasjenige zu dieſem und allen folgenden jahren mildigſt ausgieſſen was wir deroſelben aus einfaͤltigen hertzen anwuͤnſchen/ zum al- lerforderſten/ daß die liebe GOttes/ gleich wie ſie in erneurung zeitlicher dinge ſich hervor thut/ alſo auch mit taͤglicher erneurung des goͤttlichen ebenbildes in ihrer und unſer aller ſeelen/ als ein liechtlein der ewigkeit gewiedmet/ je laͤnger je kraͤffti- ger ſich erzeigen/ und uns tuͤchtig machen wolle/ daß wir an dem groſſen tag der all- gemeinen erneurung gleichfalls zu der neuen welt und ſtatt unſeres GOttes/ zu der ſeligen ewigkeit/ moͤgen erneuret werden. Amen. Die fuͤhrende klage/ wie es an dem leben mehr als an lehrern bey unſere kirchen mangle/ und viele nicht verſtehen/ daß das reich GOttes nicht in worten ſondern der krafft beſtehe/ iſt billig/ wichtig und eben diejenige/ welche alle fuͤhren/ denen das heuchel weſen jetziger zeit und die in demſelben ſteckende entheiligung goͤttlichen nahmens ſchmertzlich zu hertzen gehet: Alſo daß auch unſer/ der prediger/ meiſte ſorge anjetzo billig dieſe ſeyn muß/ unſern zuhoͤrern recht wohl einzubilden/ daß ſie verſtehen/ was die krafft des ſeligmachen- den glaubens ſeye/ und wie derſelbe nicht in einem menſchlichen gedancken/ den wir aus unſerer vernunfft faſſen koͤnten/ ſondern in goͤttlicher erleuchtung beſtehe/ wel- che wie den verſtand mit lebendiger erkaͤntnuͤß erfuͤllet/ alſo den willen und gantzen menſchen zu einem andern machet: Daß dannenhero alle die jenige mitten in der den rechten glauben bekennenden kirchen befindliche und den aͤuſſerlichen gottes- dienſt mit verrichtende menſchen/ welche aber nicht durch ſolchen wahren und uͤber aller menſchen vermoͤgen gehenden glauben wahrhafftig wiedergebohren ſind/ und in ſolcher neuen geburth einher gehen/ in der that unglaͤubig ſeynd/ und vor GOtt in viel ſchwehrer verdamnuͤß ligen als die jenige/ die auch dem buchſtaben des glau- bens nie erkant haben; damit doch den leuten der ſo tieff ſteckende wahn/ als ob die aͤuſſerliche bekantnuͤß des glaubens/ und ſo aͤuſſerlicher gebrauch der goͤttlichen gnaden-mittel (ob man ſchon deroſelben krafft widerſtrebet) als weltlich erbarer wandel dem Chriſtenthum gnugthaͤten/ und uns ſelig macheten/ benommen/ und der ſchlaff der ſicherheit aus den augen gewiſchet wuͤrde. Wovon ich einmahl in 2. predigten gehandelt/ und da ich wiſſen ſolte/ daß dieſelbe ſolche wenige blaͤtlein/ die folgends getruckt worden/ zu leſen beliebten/ zu dieſen zweck communiciren wuͤrde/ zuzeigen/ wie ich hierinnen mit deroſelben aus goͤttlichem worte einerley gedancken fuͤhre. Jn deſſen aber mag anderer ſchein-Chriſtenthum/ die die krafft der wahren goͤttſeligkeit leugnen/ anderer hertzliche begierde ihrem GOTT recht zugefallen und ohne falſch ihm zu dienen/ nicht hindern/ ſondern mitten unter an- dern unſchlachtigen und verkehrten geſchlecht erhaͤlt ſie ihr vater als ſeine kinder un- ſtraͤff ich/ und laͤſſt ſie als ein liecht vor andern leuchten/ daß durch ſie andere auch zum erkaͤntnuͤß gebracht/ oder ja durch dero exempel unentſchuldbar gemacht wer- den. So haben auch die ort/ wo goͤttliches wort gleichwohl lauter und rein ge- predigt ob ſchon deſſen erbauung durch boͤſes exempel vieler zuhoͤrer/ auch etwan der predi-

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Zitationshilfe: Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 3. Halle (Saale), 1702, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken03_1702/89>, abgerufen am 24.11.2024.