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Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 3. Halle (Saale), 1702.

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Das sechste Capitel.
können/ und dannoch werden sie gemeiniglich in dem chor/ und nicht in der übri-
gen kirchen und von den Diaconis verachtet. So ist vielmehr die wahre ursach/
weil der vornehmste gemeiniglich die predigt zu thun hat/ und in seinen medita-
tionibus
nicht zu turbiren ist/ daß ein anderer Collega die lection vorher verrich-
tet. Welches die sache darum nicht verächtlich machet/ oder dahin anzustehen ist.

5. Jndessen sihe ich nicht/ mit was grund eine solche durchjaugige lesung der
schrifft in den offentlichen versammlungen als etwas bloß nothwendiges getrie-
ben/ und in solcher unterlassung die vornehmste verderbniß der kirchen und mangel
verlangter erbauung gesuchet werden könne/ daher ich der klagen/ so über die un-
terlassung geführet werden/ übermäßig und nicht gegründet halte/ auch so viel
mehr darüber erschrocken bin/ daß p. 142. das jenige/ was der lieben Straßburgi-
schen kirchen begegnet/ als eine straffe Gottes durch solche unterlassung verschuldet
angegeben werden wil: da ich doch davor halte/ daß uns weder dergleichen gericht
zukommen wolle nach Joh. 9. noch da wir ja sonderbahre ursachen anziehen sol-
ten/ diese unterlassung vor die eigendliche schuld anzugeben wäre. Vielmehr bin
ich versichert/ daß um dieser ursach willen/ wo sonsten dem göttlichen wort sein re-
spect
und gehorsam geleistet wird/ weder einen noch anderen ort ein Göttliches
straffgericht zu besorgen seye. Was nun diesen punct der nothwendigkeit der ab-
lesung der schrifft/ der weiter zu untersuchen ist betrifft/ so bekenne (1. daß der gan-
tzen kirchen die gantze H. Schrifft nothwendig seye/ und sie keines buchs oder Ca-
pitels aus derselben ohne schaden entrahten könne/ nach dem sie gantz von GOtt
selbst eingegeben/ gewiß aber ist/ daß der weise GOtt nichts ohne nutzen kan einge-
geben oder seiner kirchen anvertrauet haben. (2. Lehrern und predigern ist auch
nothwendig die gantze H. Schrifft gelesen zu haben/ daß sie sich nicht nur ihres
glaubens aus einem und andern ort versichern/ sondern ihrer lehr gewißheit aus
der gantzen schrifft und übereinstimmung fassen: damit sie auch immer einen ort
aus dem andern zu erklähren vermögen. (3. Was andre Christen anlangt/ welche
zu einer weitern als bloß zur seligkeit nothwendigen erkändtniß zu gelangen die ga-
ben haben/ denen ist wiederum nicht nur nützlich/ sondern auch nöthig/ die gantze
schrifft zu lesen/ und aus deroselben gantzen abfassung/ iegliches nach dem maaß als
ihnen verliehen ist/ das jenige zu suchen und zu begreiffen/ was zu ihrer erbauung in
glauben und leben dienlich ist. (4. Was aber die jenige betrifft/ deren gaben sich
so weit nicht erstrecken/ daß sie viel über das jenige zukommen vermöchten/ als
was ihre nöthigste glaubens lehren und lebens reglen sind/ solchen halte die erkänt-
nüß der gantzen schrifft nicht nöthig/ sondern vor sie gnug/ da sie aus derselben so
vieles vorgelegt bekommen/ und fassen/ was solchem zweck gemäß ist. (5. Daher
ist einer gantzen gemeinde/ in dero ein und anderer art leute sind/ wohl zu gönnen/
daß ihr das Göttliche wort gantz vorgetragen werde/ wo dasselbe dermassen ge-
schehen kan/ daß dem einfältigen nicht zu vieles von dem ihnen nothwendigsten
entzogen wird. Wo aber dieses zu sorgen/ so ist besser/ daß in öffentlicher gemein-

de

Das ſechſte Capitel.
koͤnnen/ und dannoch werden ſie gemeiniglich in dem chor/ und nicht in der uͤbri-
gen kirchen und von den Diaconis verachtet. So iſt vielmehr die wahre urſach/
weil der vornehmſte gemeiniglich die predigt zu thun hat/ und in ſeinen medita-
tionibus
nicht zu turbiren iſt/ daß ein anderer Collega die lection vorher verrich-
tet. Welches die ſache darum nicht veraͤchtlich machet/ oder dahin anzuſtehen iſt.

5. Jndeſſen ſihe ich nicht/ mit was grund eine ſolche durchjaugige leſung der
ſchrifft in den offentlichen verſammlungen als etwas bloß nothwendiges getrie-
ben/ und in ſolcher unterlaſſung die vornehmſte verderbniß der kirchen und mangel
verlangter erbauung geſuchet werden koͤnne/ daher ich der klagen/ ſo uͤber die un-
terlaſſung gefuͤhret werden/ uͤbermaͤßig und nicht gegruͤndet halte/ auch ſo viel
mehr daruͤber erſchrocken bin/ daß p. 142. das jenige/ was der lieben Straßburgi-
ſchen kirchen begegnet/ als eine ſtraffe Gottes durch ſolche unterlaſſung verſchuldet
angegeben werden wil: da ich doch davor halte/ daß uns weder dergleichen gericht
zukommen wolle nach Joh. 9. noch da wir ja ſonderbahre urſachen anziehen ſol-
ten/ dieſe unterlaſſung vor die eigendliche ſchuld anzugeben waͤre. Vielmehr bin
ich verſichert/ daß um dieſer urſach willen/ wo ſonſten dem goͤttlichen wort ſein re-
ſpect
und gehorſam geleiſtet wird/ weder einen noch anderen ort ein Goͤttliches
ſtraffgericht zu beſorgen ſeye. Was nun dieſen punct der nothwendigkeit der ab-
leſung der ſchrifft/ der weiter zu unterſuchen iſt betrifft/ ſo bekenne (1. daß der gan-
tzen kirchen die gantze H. Schrifft nothwendig ſeye/ und ſie keines buchs oder Ca-
pitels aus derſelben ohne ſchaden entrahten koͤnne/ nach dem ſie gantz von GOtt
ſelbſt eingegeben/ gewiß aber iſt/ daß der weiſe GOtt nichts ohne nutzen kan einge-
geben oder ſeiner kirchen anvertrauet haben. (2. Lehrern und predigern iſt auch
nothwendig die gantze H. Schrifft geleſen zu haben/ daß ſie ſich nicht nur ihres
glaubens aus einem und andern ort verſichern/ ſondern ihrer lehr gewißheit aus
der gantzen ſchrifft und uͤbereinſtimmung faſſen: damit ſie auch immer einen ort
aus dem andern zu erklaͤhren vermoͤgen. (3. Was andre Chriſten anlangt/ welche
zu einer weitern als bloß zur ſeligkeit nothwendigen erkaͤndtniß zu gelangen die ga-
ben haben/ denen iſt wiederum nicht nur nuͤtzlich/ ſondern auch noͤthig/ die gantze
ſchrifft zu leſen/ und aus deroſelben gantzen abfaſſung/ iegliches nach dem maaß als
ihnen verliehen iſt/ das jenige zu ſuchen und zu begreiffen/ was zu ihrer erbauung in
glauben und leben dienlich iſt. (4. Was aber die jenige betrifft/ deren gaben ſich
ſo weit nicht erſtrecken/ daß ſie viel uͤber das jenige zukommen vermoͤchten/ als
was ihre noͤthigſte glaubens lehren und lebens reglen ſind/ ſolchen halte die erkaͤnt-
nuͤß der gantzen ſchrifft nicht noͤthig/ ſondern vor ſie gnug/ da ſie aus derſelben ſo
vieles vorgelegt bekommen/ und faſſen/ was ſolchem zweck gemaͤß iſt. (5. Daher
iſt einer gantzen gemeinde/ in dero ein und anderer art leute ſind/ wohl zu goͤnnen/
daß ihr das Goͤttliche wort gantz vorgetragen werde/ wo daſſelbe dermaſſen ge-
ſchehen kan/ daß dem einfaͤltigen nicht zu vieles von dem ihnen nothwendigſten
entzogen wird. Wo aber dieſes zu ſorgen/ ſo iſt beſſer/ daß in oͤffentlicher gemein-

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[748/0766] Das ſechſte Capitel. koͤnnen/ und dannoch werden ſie gemeiniglich in dem chor/ und nicht in der uͤbri- gen kirchen und von den Diaconis verachtet. So iſt vielmehr die wahre urſach/ weil der vornehmſte gemeiniglich die predigt zu thun hat/ und in ſeinen medita- tionibus nicht zu turbiren iſt/ daß ein anderer Collega die lection vorher verrich- tet. Welches die ſache darum nicht veraͤchtlich machet/ oder dahin anzuſtehen iſt. 5. Jndeſſen ſihe ich nicht/ mit was grund eine ſolche durchjaugige leſung der ſchrifft in den offentlichen verſammlungen als etwas bloß nothwendiges getrie- ben/ und in ſolcher unterlaſſung die vornehmſte verderbniß der kirchen und mangel verlangter erbauung geſuchet werden koͤnne/ daher ich der klagen/ ſo uͤber die un- terlaſſung gefuͤhret werden/ uͤbermaͤßig und nicht gegruͤndet halte/ auch ſo viel mehr daruͤber erſchrocken bin/ daß p. 142. das jenige/ was der lieben Straßburgi- ſchen kirchen begegnet/ als eine ſtraffe Gottes durch ſolche unterlaſſung verſchuldet angegeben werden wil: da ich doch davor halte/ daß uns weder dergleichen gericht zukommen wolle nach Joh. 9. noch da wir ja ſonderbahre urſachen anziehen ſol- ten/ dieſe unterlaſſung vor die eigendliche ſchuld anzugeben waͤre. Vielmehr bin ich verſichert/ daß um dieſer urſach willen/ wo ſonſten dem goͤttlichen wort ſein re- ſpect und gehorſam geleiſtet wird/ weder einen noch anderen ort ein Goͤttliches ſtraffgericht zu beſorgen ſeye. Was nun dieſen punct der nothwendigkeit der ab- leſung der ſchrifft/ der weiter zu unterſuchen iſt betrifft/ ſo bekenne (1. daß der gan- tzen kirchen die gantze H. Schrifft nothwendig ſeye/ und ſie keines buchs oder Ca- pitels aus derſelben ohne ſchaden entrahten koͤnne/ nach dem ſie gantz von GOtt ſelbſt eingegeben/ gewiß aber iſt/ daß der weiſe GOtt nichts ohne nutzen kan einge- geben oder ſeiner kirchen anvertrauet haben. (2. Lehrern und predigern iſt auch nothwendig die gantze H. Schrifft geleſen zu haben/ daß ſie ſich nicht nur ihres glaubens aus einem und andern ort verſichern/ ſondern ihrer lehr gewißheit aus der gantzen ſchrifft und uͤbereinſtimmung faſſen: damit ſie auch immer einen ort aus dem andern zu erklaͤhren vermoͤgen. (3. Was andre Chriſten anlangt/ welche zu einer weitern als bloß zur ſeligkeit nothwendigen erkaͤndtniß zu gelangen die ga- ben haben/ denen iſt wiederum nicht nur nuͤtzlich/ ſondern auch noͤthig/ die gantze ſchrifft zu leſen/ und aus deroſelben gantzen abfaſſung/ iegliches nach dem maaß als ihnen verliehen iſt/ das jenige zu ſuchen und zu begreiffen/ was zu ihrer erbauung in glauben und leben dienlich iſt. (4. Was aber die jenige betrifft/ deren gaben ſich ſo weit nicht erſtrecken/ daß ſie viel uͤber das jenige zukommen vermoͤchten/ als was ihre noͤthigſte glaubens lehren und lebens reglen ſind/ ſolchen halte die erkaͤnt- nuͤß der gantzen ſchrifft nicht noͤthig/ ſondern vor ſie gnug/ da ſie aus derſelben ſo vieles vorgelegt bekommen/ und faſſen/ was ſolchem zweck gemaͤß iſt. (5. Daher iſt einer gantzen gemeinde/ in dero ein und anderer art leute ſind/ wohl zu goͤnnen/ daß ihr das Goͤttliche wort gantz vorgetragen werde/ wo daſſelbe dermaſſen ge- ſchehen kan/ daß dem einfaͤltigen nicht zu vieles von dem ihnen nothwendigſten entzogen wird. Wo aber dieſes zu ſorgen/ ſo iſt beſſer/ daß in oͤffentlicher gemein- de

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Zitationshilfe: Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 3. Halle (Saale), 1702, S. 748. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken03_1702/766>, abgerufen am 22.11.2024.