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Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 3. Halle (Saale), 1702.

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Das sechste Capitel.
nicht unser gefühl ist die regel der wahrheit/ sondern die göttliche wahrheit ist die regel
unsers gefühls/ ob es göttlich/ oder eine einbildung unsers fleisches seye/ worinnen
man sich sonsten offt leicht verstossen kan/ weil einmahl un ser hertz an sich selbs und
ausser Gottes würckung die jenige unart an sich hat/ da es insgemein von
uns heisset/ alle menschen sind lügner/ Psal. 116. und kan sich sehr bald (wie die
betrübte exempel zeigen) der fürst der finsternüß in einen engel des liechts verstellen/
da er uns dergleichen dinge eintruckt/ die einen schein der göttlichen wahrheit ha-
ben: da hingegen die göttliche barmhertzigkeit hertzlich zu preisen ist/ welche uns eine
regel der wahrheit in göttlichem wort ausser uns gegeben hat/ nach welcher wir/ was
wir fühlen/ genau zu prüffen haben: Noch gefährlicher aber ist es/ deßwegen eine
göttliche wahrheit/ die in der Schrifft also gegründet/ daß man nichts erhebliches da-
gegen aufzubringen weist/ nicht annehmen wollen/ weil man dieselbe nicht auch in sich
bezeuget fühle. Aber dieses hiesse/ die Gewißheit GOttes/ welche auf seiner wahr-
heit und in dem wort gethaner offenbahrung beruhet/ an unser armes gefühl hän-
gen/ daß auff so viel weise wie betrüglich ist/ also gehindert werden kan. Und so
hätte solche himmlische weißheit nicht ihrer eigenen göttlichen gewißheit/ sondern uns
zu dancken daß sie von uns angenommen würde/ als die/ wo wir sie nicht fühleten/
ohne verletzung des gewissens könte verworffen oder doch stehen gelassen werden.
Wo dieses gülte/ was wolten wir sagen von allen denjenigen/ welche jemahl das ih-
nen von den H. Propheten und Aposteln gepredigte wort verworffen haben/ derer
unglauen gleichwohl in der Schrifft so hoch gestrafft/ und ihnen daher das gericht an-
gedrohet wird? Sie haben ja aller solcher wahrheit gefühl nicht in sich gehabt/ son-
dern das gegentheil vielmehr gemeiniglich zu fühlen gemeinet/ daher sie in einen sol-
chen eyffer dagegen offt entbrannt sind/ daß sie die wahrheit zu verfolgen kein be-
denckens gehabt haben. Jst nun keiner schuldig etwas zu glauben/ als davon er das
innere gefühl in seinem hertzen hat/ so sind all solche Leute unschuldig/ und ihr un-
glaube wird ungerecht gestrafft. Jch halte mich hingegen versichert/ was in Gottes
wort klar bezeuget/ und aus dessen buchstaben uns dermassen vor augen geleget wird/
daß wir nichts dagegen gründliches aus eben solchen wort Gottes auffzubringen ver-
mögen/ seye dasjenige/ welches wir zu glauben schuldig sind/ ob wir auch davon kein
gefühl haben solten: welchen mangel wir nicht der sache selbs/ ob wäre sie keine göttli-
che wahrheit/ sondern unsers hertzens natürlicher unart und härtigkeit zuzumessen/
Gott hingegen um die überzeugung seines H. Geistes dabey stets anzuflehen haben
so mache ich auch billich einen unterscheid unterdem glaubens sachen/ deren theils von
solchen dingen handlen/ welche ausser uns sind und geschehen/ theils welche in uns sind
und geschehen. Was jene erste sind/ zum exempel was in Gott selbs geschehen und ist/
was mit Christi person und mit seinem amt vorgegangen/ was seine verordnungen
sind und dergleichen/ da bedarff es nicht eben eine sonderbare fühlung/ sondern eine
versicherung unseres gewissens/ daß dieses und jenes in H. Schrifft gegründet seye/

von

Das ſechſte Capitel.
nicht unſer gefuͤhl iſt die regel der wahrheit/ ſondern die goͤttliche wahrheit iſt die regel
unſers gefuͤhls/ ob es goͤttlich/ oder eine einbildung unſers fleiſches ſeye/ worinnen
man ſich ſonſten offt leicht verſtoſſen kan/ weil einmahl un ſer hertz an ſich ſelbs und
auſſer Gottes wuͤrckung die jenige unart an ſich hat/ da es insgemein von
uns heiſſet/ alle menſchen ſind luͤgner/ Pſal. 116. und kan ſich ſehr bald (wie die
betruͤbte exempel zeigen) der fuͤrſt der finſternuͤß in einen engel des liechts verſtellen/
da er uns dergleichen dinge eintruckt/ die einen ſchein der goͤttlichen wahrheit ha-
ben: da hingegen die goͤttliche barmhertzigkeit hertzlich zu preiſen iſt/ welche uns eine
regel der wahrheit in goͤttlichem wort auſſer uns gegeben hat/ nach welcher wir/ was
wir fuͤhlen/ genau zu pruͤffen haben: Noch gefaͤhrlicher aber iſt es/ deßwegen eine
goͤttliche wahrheit/ die in der Schrifft alſo gegruͤndet/ daß man nichts erhebliches da-
gegen aufzubringen weiſt/ nicht annehmen wollen/ weil man dieſelbe nicht auch in ſich
bezeuget fuͤhle. Aber dieſes hieſſe/ die Gewißheit GOttes/ welche auf ſeiner wahr-
heit und in dem wort gethaner offenbahrung beruhet/ an unſer armes gefuͤhl haͤn-
gen/ daß auff ſo viel weiſe wie betruͤglich iſt/ alſo gehindert werden kan. Und ſo
haͤtte ſolche himmliſche weißheit nicht ihrer eigenen goͤttlichen gewißheit/ ſondern uns
zu dancken daß ſie von uns angenommen wuͤrde/ als die/ wo wir ſie nicht fuͤhleten/
ohne verletzung des gewiſſens koͤnte verworffen oder doch ſtehen gelaſſen werden.
Wo dieſes guͤlte/ was wolten wir ſagen von allen denjenigen/ welche jemahl das ih-
nen von den H. Propheten und Apoſteln gepredigte wort verworffen haben/ derer
unglauen gleichwohl in der Schrifft ſo hoch geſtrafft/ und ihnen daher das gericht an-
gedrohet wird? Sie haben ja aller ſolcher wahrheit gefuͤhl nicht in ſich gehabt/ ſon-
dern das gegentheil vielmehr gemeiniglich zu fuͤhlen gemeinet/ daher ſie in einen ſol-
chen eyffer dagegen offt entbrannt ſind/ daß ſie die wahrheit zu verfolgen kein be-
denckens gehabt haben. Jſt nun keiner ſchuldig etwas zu glauben/ als davon er das
innere gefuͤhl in ſeinem hertzen hat/ ſo ſind all ſolche Leute unſchuldig/ und ihr un-
glaube wird ungerecht geſtrafft. Jch halte mich hingegen verſichert/ was in Gottes
wort klar bezeuget/ und aus deſſen buchſtaben uns dermaſſen vor augen geleget wird/
daß wir nichts dagegen gruͤndliches aus eben ſolchen wort Gottes auffzubringen ver-
moͤgen/ ſeye dasjenige/ welches wir zu glauben ſchuldig ſind/ ob wir auch davon kein
gefuͤhl haben ſolten: welchen mangel wir nicht der ſache ſelbs/ ob waͤre ſie keine goͤttli-
che wahrheit/ ſondern unſers hertzens natuͤrlicher unart und haͤrtigkeit zuzumeſſen/
Gott hingegen um die uͤberzeugung ſeines H. Geiſtes dabey ſtets anzuflehen haben
ſo mache ich auch billich einen unterſcheid unterdem glaubens ſachen/ deren theils von
ſolchen dingen handlen/ welche auſſer uns ſind und geſchehen/ theils welche in uns ſind
und geſchehen. Was jene erſte ſind/ zum exempel was in Gott ſelbs geſchehen und iſt/
was mit Chriſti perſon und mit ſeinem amt vorgegangen/ was ſeine verordnungen
ſind und dergleichen/ da bedarff es nicht eben eine ſonderbare fuͤhlung/ ſondern eine
verſicherung unſeres gewiſſens/ daß dieſes und jenes in H. Schrifft gegruͤndet ſeye/

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[580/0598] Das ſechſte Capitel. nicht unſer gefuͤhl iſt die regel der wahrheit/ ſondern die goͤttliche wahrheit iſt die regel unſers gefuͤhls/ ob es goͤttlich/ oder eine einbildung unſers fleiſches ſeye/ worinnen man ſich ſonſten offt leicht verſtoſſen kan/ weil einmahl un ſer hertz an ſich ſelbs und auſſer Gottes wuͤrckung die jenige unart an ſich hat/ da es insgemein von uns heiſſet/ alle menſchen ſind luͤgner/ Pſal. 116. und kan ſich ſehr bald (wie die betruͤbte exempel zeigen) der fuͤrſt der finſternuͤß in einen engel des liechts verſtellen/ da er uns dergleichen dinge eintruckt/ die einen ſchein der goͤttlichen wahrheit ha- ben: da hingegen die goͤttliche barmhertzigkeit hertzlich zu preiſen iſt/ welche uns eine regel der wahrheit in goͤttlichem wort auſſer uns gegeben hat/ nach welcher wir/ was wir fuͤhlen/ genau zu pruͤffen haben: Noch gefaͤhrlicher aber iſt es/ deßwegen eine goͤttliche wahrheit/ die in der Schrifft alſo gegruͤndet/ daß man nichts erhebliches da- gegen aufzubringen weiſt/ nicht annehmen wollen/ weil man dieſelbe nicht auch in ſich bezeuget fuͤhle. Aber dieſes hieſſe/ die Gewißheit GOttes/ welche auf ſeiner wahr- heit und in dem wort gethaner offenbahrung beruhet/ an unſer armes gefuͤhl haͤn- gen/ daß auff ſo viel weiſe wie betruͤglich iſt/ alſo gehindert werden kan. Und ſo haͤtte ſolche himmliſche weißheit nicht ihrer eigenen goͤttlichen gewißheit/ ſondern uns zu dancken daß ſie von uns angenommen wuͤrde/ als die/ wo wir ſie nicht fuͤhleten/ ohne verletzung des gewiſſens koͤnte verworffen oder doch ſtehen gelaſſen werden. Wo dieſes guͤlte/ was wolten wir ſagen von allen denjenigen/ welche jemahl das ih- nen von den H. Propheten und Apoſteln gepredigte wort verworffen haben/ derer unglauen gleichwohl in der Schrifft ſo hoch geſtrafft/ und ihnen daher das gericht an- gedrohet wird? Sie haben ja aller ſolcher wahrheit gefuͤhl nicht in ſich gehabt/ ſon- dern das gegentheil vielmehr gemeiniglich zu fuͤhlen gemeinet/ daher ſie in einen ſol- chen eyffer dagegen offt entbrannt ſind/ daß ſie die wahrheit zu verfolgen kein be- denckens gehabt haben. Jſt nun keiner ſchuldig etwas zu glauben/ als davon er das innere gefuͤhl in ſeinem hertzen hat/ ſo ſind all ſolche Leute unſchuldig/ und ihr un- glaube wird ungerecht geſtrafft. Jch halte mich hingegen verſichert/ was in Gottes wort klar bezeuget/ und aus deſſen buchſtaben uns dermaſſen vor augen geleget wird/ daß wir nichts dagegen gruͤndliches aus eben ſolchen wort Gottes auffzubringen ver- moͤgen/ ſeye dasjenige/ welches wir zu glauben ſchuldig ſind/ ob wir auch davon kein gefuͤhl haben ſolten: welchen mangel wir nicht der ſache ſelbs/ ob waͤre ſie keine goͤttli- che wahrheit/ ſondern unſers hertzens natuͤrlicher unart und haͤrtigkeit zuzumeſſen/ Gott hingegen um die uͤberzeugung ſeines H. Geiſtes dabey ſtets anzuflehen haben ſo mache ich auch billich einen unterſcheid unterdem glaubens ſachen/ deren theils von ſolchen dingen handlen/ welche auſſer uns ſind und geſchehen/ theils welche in uns ſind und geſchehen. Was jene erſte ſind/ zum exempel was in Gott ſelbs geſchehen und iſt/ was mit Chriſti perſon und mit ſeinem amt vorgegangen/ was ſeine verordnungen ſind und dergleichen/ da bedarff es nicht eben eine ſonderbare fuͤhlung/ ſondern eine verſicherung unſeres gewiſſens/ daß dieſes und jenes in H. Schrifft gegruͤndet ſeye/ von

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Zitationshilfe: Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 3. Halle (Saale), 1702, S. 580. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken03_1702/598>, abgerufen am 22.11.2024.