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Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 3. Halle (Saale), 1702.

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Das sechste Capitel.
allen seiten mit weltlichen verrichtungen umgeben seind/ und verstehet warhafftig
der jenige die wichtigkeit dessen nicht/ was wir bedürffen bey uns gewürcket zu wer-
den/ der es vor eine arbeit ein- und anderer viertel stunde hält.

Mit den aberglauben ists auch freylich eine sach/ die betrüblich ist/ ich sehe
sie an als reliquias theils des Heyden-meistens aber des Papstums/ und haben
gewißlich einige davon eine heimliche zauberey in sich/ daher billich dagegen zu eyf-
fern. Jch wolte nicht ungern sehen/ daß einige den gantzen Catalogum von sol-
chen aberglauben zusammen brächten/ damit den leuthen solche vorgestellet/ die ei-
telkeit/ ja darinn steckender greuel/ nachtrücklich gewiesen/ und sie davon abgeschrö-
cket würden/ es wäre aber nicht eines mannes arbeit/ dann in einem land und orth die-
se in andern andere in schwang gehen/ sondern es müsten etliche aus der sache mit
einander communiciren. Was wegen des so genanten Christkindleins und
der dabey vorgehenden abgötterey und aberglauben erinnert werden/ ist das jenige/
so ich auch samt andern meiner treuen mit-Collegen lang treibe/ da auch das un-
wesen etlicher massen allhie gemindert/ nicht aber gantz aufgehoben ist. Die mir
überschriebne Thesis von der verderbnüß des menschen ist gantz orthodox
und so wol unserer gantzen Evangelischen kirchen gemein/ als auch meine lehr. Wir
haben einmal nichts von einem geistlichen liecht in uns nach dem fall übrig/ so we-
nig als eine krafft etwas wahrhafftiges gutes zuthun/ sondern beyderley muß erst
von GOtt in uns gewircket werden/ die scintillulas cognitionis naturalis er-
kenne ich/ und läugne sie nicht/ wie sie sich denn in dem gewissen offenbahren/ aber
alle solche erkäntnüß ist noch nicht die wahre erkäntnüß GOTTes: Sie ergreifft
wol einige wahre propositiones von GOTT/ und vermehrt sich durch anschauen
der creaturen/ aber sie siehet sie nicht in dem rechten liecht/ daher von sie nicht nur
leicht in denselben noemai, anstossen/ ja wird sie nie so rein haben/ daß nicht noth-
wendig mehrere ir[r]thume mit untermischet wären/ sondern/ was sie auch wahres
erkennet/ ist noch nicht so erkant/ wie es erkant werden solle. Daher ein grosser un-
terschied bleibet unter der au[c]h geringsten von dem heiligen Geist und seiner offen-
bahrung gewürckten erkäntnüß/ und unter der auch höchsten natürlichen wissen-
schafft. Diß principium, daß allezeit 2. liechter das innerliche und äusserliche zu
dem sehen nöthig seynd/ soll es wahr seyn/ muß sehr caute und vorsichtig applicirt
werden/ und gehet also wol an/ wie es mein wehrter bruder erkläret. Jedoch
daß wir nicht davor halten/ daß der heilige Geist nicht auch selbs in solchen so genan-
ten äusserlichen liecht der Schrifft seye. Dann wie sie sein wort ist/ so ist er
allezeit mit und in derselben/ so zu reden ihr leben. Jndessen ist er freylich auch der
jenige/ welcher in unsern seelen auß solchem liecht der Schrifft ausser uns das wah-
re liecht erst anstecket. Also muß wol acht gegeben werden/ das wirs nicht etwa
auf diese weise annehmen wollten/ ob müste schon ohne das in uns ein liecht seyn/ wel-

ches

Das ſechſte Capitel.
allen ſeiten mit weltlichen verrichtungen umgeben ſeind/ und verſtehet warhafftig
der jenige die wichtigkeit deſſen nicht/ was wir beduͤrffen bey uns gewuͤrcket zu wer-
den/ der es vor eine arbeit ein- und anderer viertel ſtunde haͤlt.

Mit den aberglauben iſts auch freylich eine ſach/ die betruͤblich iſt/ ich ſehe
ſie an als reliquias theils des Heyden-meiſtens aber des Papſtums/ und haben
gewißlich einige davon eine heimliche zauberey in ſich/ daher billich dagegen zu eyf-
fern. Jch wolte nicht ungern ſehen/ daß einige den gantzen Catalogum von ſol-
chen aberglauben zuſammen braͤchten/ damit den leuthen ſolche vorgeſtellet/ die ei-
telkeit/ ja darinn ſteckender greuel/ nachtruͤcklich gewieſen/ und ſie davon abgeſchroͤ-
cket wuͤrden/ es waͤre aber nicht eines mannes arbeit/ dañ in einem land und orth die-
ſe in andern andere in ſchwang gehen/ ſondern es muͤſten etliche aus der ſache mit
einander communiciren. Was wegen des ſo genanten Chriſtkindleins und
der dabey vorgehenden abgoͤtterey und aberglauben erinnert werden/ iſt das jenige/
ſo ich auch ſamt andern meiner treuen mit-Collegen lang treibe/ da auch das un-
weſen etlicher maſſen allhie gemindert/ nicht aber gantz aufgehoben iſt. Die mir
uͤberſchriebne Theſis von der verderbnuͤß des menſchen iſt gantz orthodox
und ſo wol unſerer gantzen Evangeliſchen kirchen gemein/ als auch meine lehr. Wir
haben einmal nichts von einem geiſtlichen liecht in uns nach dem fall uͤbrig/ ſo we-
nig als eine krafft etwas wahrhafftiges gutes zuthun/ ſondern beyderley muß erſt
von GOtt in uns gewircket werden/ die ſcintillulas cognitionis naturalis er-
kenne ich/ und laͤugne ſie nicht/ wie ſie ſich denn in dem gewiſſen offenbahren/ aber
alle ſolche erkaͤntnuͤß iſt noch nicht die wahre erkaͤntnuͤß GOTTes: Sie ergreifft
wol einige wahre propoſitiones von GOTT/ und vermehrt ſich durch anſchauen
der creaturen/ aber ſie ſiehet ſie nicht in dem rechten liecht/ daher von ſie nicht nur
leicht in denſelben νοήμαι, anſtoſſen/ ja wird ſie nie ſo rein haben/ daß nicht noth-
wendig mehrere ir[r]thume mit untermiſchet waͤren/ ſondern/ was ſie auch wahres
erkennet/ iſt noch nicht ſo erkant/ wie es erkant werden ſolle. Daher ein groſſer un-
terſchied bleibet unter der au[c]h geringſten von dem heiligen Geiſt und ſeiner offen-
bahrung gewuͤrckten erkaͤntnuͤß/ und unter der auch hoͤchſten natuͤrlichen wiſſen-
ſchafft. Diß principium, daß allezeit 2. liechter das innerliche und aͤuſſerliche zu
dem ſehen noͤthig ſeynd/ ſoll es wahr ſeyn/ muß ſehr cautè und vorſichtig applicirt
werden/ und gehet alſo wol an/ wie es mein wehrter bruder erklaͤret. Jedoch
daß wir nicht davor halten/ daß der heilige Geiſt nicht auch ſelbs in ſolchen ſo genan-
ten aͤuſſerlichen liecht der Schrifft ſeye. Dann wie ſie ſein wort iſt/ ſo iſt er
allezeit mit und in derſelben/ ſo zu reden ihr leben. Jndeſſen iſt er freylich auch der
jenige/ welcher in unſern ſeelen auß ſolchem liecht der Schrifft auſſer uns das wah-
re liecht erſt anſtecket. Alſo muß wol acht gegeben werden/ das wirs nicht etwa
auf dieſe weiſe annehmen wollten/ ob muͤſte ſchon ohne das in uns ein liecht ſeyn/ wel-

ches
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[446/0464] Das ſechſte Capitel. allen ſeiten mit weltlichen verrichtungen umgeben ſeind/ und verſtehet warhafftig der jenige die wichtigkeit deſſen nicht/ was wir beduͤrffen bey uns gewuͤrcket zu wer- den/ der es vor eine arbeit ein- und anderer viertel ſtunde haͤlt. Mit den aberglauben iſts auch freylich eine ſach/ die betruͤblich iſt/ ich ſehe ſie an als reliquias theils des Heyden-meiſtens aber des Papſtums/ und haben gewißlich einige davon eine heimliche zauberey in ſich/ daher billich dagegen zu eyf- fern. Jch wolte nicht ungern ſehen/ daß einige den gantzen Catalogum von ſol- chen aberglauben zuſammen braͤchten/ damit den leuthen ſolche vorgeſtellet/ die ei- telkeit/ ja darinn ſteckender greuel/ nachtruͤcklich gewieſen/ und ſie davon abgeſchroͤ- cket wuͤrden/ es waͤre aber nicht eines mannes arbeit/ dañ in einem land und orth die- ſe in andern andere in ſchwang gehen/ ſondern es muͤſten etliche aus der ſache mit einander communiciren. Was wegen des ſo genanten Chriſtkindleins und der dabey vorgehenden abgoͤtterey und aberglauben erinnert werden/ iſt das jenige/ ſo ich auch ſamt andern meiner treuen mit-Collegen lang treibe/ da auch das un- weſen etlicher maſſen allhie gemindert/ nicht aber gantz aufgehoben iſt. Die mir uͤberſchriebne Theſis von der verderbnuͤß des menſchen iſt gantz orthodox und ſo wol unſerer gantzen Evangeliſchen kirchen gemein/ als auch meine lehr. Wir haben einmal nichts von einem geiſtlichen liecht in uns nach dem fall uͤbrig/ ſo we- nig als eine krafft etwas wahrhafftiges gutes zuthun/ ſondern beyderley muß erſt von GOtt in uns gewircket werden/ die ſcintillulas cognitionis naturalis er- kenne ich/ und laͤugne ſie nicht/ wie ſie ſich denn in dem gewiſſen offenbahren/ aber alle ſolche erkaͤntnuͤß iſt noch nicht die wahre erkaͤntnuͤß GOTTes: Sie ergreifft wol einige wahre propoſitiones von GOTT/ und vermehrt ſich durch anſchauen der creaturen/ aber ſie ſiehet ſie nicht in dem rechten liecht/ daher von ſie nicht nur leicht in denſelben νοήμαι, anſtoſſen/ ja wird ſie nie ſo rein haben/ daß nicht noth- wendig mehrere irrthume mit untermiſchet waͤren/ ſondern/ was ſie auch wahres erkennet/ iſt noch nicht ſo erkant/ wie es erkant werden ſolle. Daher ein groſſer un- terſchied bleibet unter der auch geringſten von dem heiligen Geiſt und ſeiner offen- bahrung gewuͤrckten erkaͤntnuͤß/ und unter der auch hoͤchſten natuͤrlichen wiſſen- ſchafft. Diß principium, daß allezeit 2. liechter das innerliche und aͤuſſerliche zu dem ſehen noͤthig ſeynd/ ſoll es wahr ſeyn/ muß ſehr cautè und vorſichtig applicirt werden/ und gehet alſo wol an/ wie es mein wehrter bruder erklaͤret. Jedoch daß wir nicht davor halten/ daß der heilige Geiſt nicht auch ſelbs in ſolchen ſo genan- ten aͤuſſerlichen liecht der Schrifft ſeye. Dann wie ſie ſein wort iſt/ ſo iſt er allezeit mit und in derſelben/ ſo zu reden ihr leben. Jndeſſen iſt er freylich auch der jenige/ welcher in unſern ſeelen auß ſolchem liecht der Schrifft auſſer uns das wah- re liecht erſt anſtecket. Alſo muß wol acht gegeben werden/ das wirs nicht etwa auf dieſe weiſe annehmen wollten/ ob muͤſte ſchon ohne das in uns ein liecht ſeyn/ wel- ches

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Zitationshilfe: Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 3. Halle (Saale), 1702, S. 446. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken03_1702/464>, abgerufen am 22.11.2024.