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Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 3. Halle (Saale), 1702.

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ARTIC. I. DISTINCTIO III. SECT. XXII.
werden vermögen/ als wir von natur sind. Finde ich diefen grund unverruckt/
und daß sich alles hierauf bauet/ so erkenne ich solche Göttl. wahrheit mit danck
und gehorsam; solte ich aber einen andern grund antreffen/ so verwerffe ichs mit
allem recht/ und ob ich schon sonsten einige scheinbare und unverwerffliche wahr-
heiten darinnen sehe/ so sihe ich mich doch dabey vor/ daß nicht unter denselben
mir einige andere gefährlich vorgebracht mögen werden. Was nach mahl andere
lehren anlanget/ finde ich abermahl dieses die beste art/ die ich auch andern am
liebsten vorschlagen wolte. Wo ich nemlich eine lehre höre und lese/ untersuche
ich/ ob solche gantz deutlich aus Gottes wort erwiesen werde/ also daß ich selbst in
meinem gewissen überzeugt bin/ daß dieses entweder dem buchstaben nach/ oder
durch eine mir selbst einleuchtende gewisse consequentz damit überein komme;
so mag ichs auch mit getrostem hertzen annehmen/ es werde mir auch vorgetragen
von wem es wolle. Sihe ich aber/ daß es offenbarlich mit solcher Göttlichen uns
in der schrifft dargelegten wahrheit streitet/ so verwerffe ichs billich. Wo es aber
so bewandt ist/ daß ich mich zu schwach finde davon zu urtheilen/ wie es offt ge-
schehen kan/ daß ich weder die einstimmung mit der schrifft noch dero wider spruch/
also erkenne/ daß ich in meiner seelen deroselben überzeugt bin/ so lasse ich solche
sache beruhen/ urtheile weder dieses noch jenes/ um mich nicht auf eine oder an-
dere art zu vergreiffen/ ruffe aber Gott hertzlich an/ wo mirs nötig/ auch in solcher
sache eine gewißheit zu geben. Wo wir diese art zu handlen in acht nehmen/
wird uns keiner mit schrifften oder reden verführen/ wie grossen schein der gottse-
ligkeit er vorgebe (wie es etwa auch zu unsern zeiten dergleichen irr-geister mag
gegeben haben/ oder noch geben) und uns damit zu bestricken sich unterstünde.
Dann meine grund-lehr bleibet mir fest/ und darinn habe ich mich durch Gött-
liche gnade also befestiget/ daß mich darinn keiner eines andern bereden mag: in
den übrigen lehren/ da die gottseligkeit zum vorwand gebraucht wird/ nehme ich
nicht mehr noch weniger an/ als was die schrift mir klar bezeugt/ u. überlasse alles
übrige seinen autoribus. Hingegen verwahre ich mich auf solche art auch auf der
andern seiten/ daß ich nichts als teuffelich verdamme/ was vielleicht mir zwar zu
hoch/ aber von einem Göttlichen principio herkommen möchte. Worinn öffters
von uns auch aus blindem eyffer gefehlet zu werden/ und solche fehler viel gefähr-
licher achte/ als es ins gemein geschätzet wird: weswegen nicht leugne/ daß ich
in solcher sach gern langsam und sehr behutsam gehe. Zwischen allen solchen ge-
fahren und verführungen bleibets aber auch freylich dabey/ daß die kirche Gottes
nicht mag von den pforten der höllen überwältiget werden: nur daß wir dieselbe
nicht bloß in einer äusserlichen sichtbarlichen gemeinde (dann solche der kirchen
facies kan wohl eine zeitlang verschwinden/ und wer weiß/ wie nahe wir dabey
sind/ daß der HERR jenem Babel möchte so viel gewalt geben/ daß man kaum
einigen sichtbaren hauffen/ ich will nicht sagen der recht-gläubigen/ sondern
nur recht-lehrenden/ eine weile mehr zu sehen haben dörffte?) suche/ sondern

er-
Ggg 3

ARTIC. I. DISTINCTIO III. SECT. XXII.
werden vermoͤgen/ als wir von natur ſind. Finde ich diefen grund unverruckt/
und daß ſich alles hierauf bauet/ ſo erkenne ich ſolche Goͤttl. wahrheit mit danck
und gehorſam; ſolte ich aber einen andern grund antreffen/ ſo verwerffe ichs mit
allem recht/ und ob ich ſchon ſonſten einige ſcheinbare und unverwerffliche wahr-
heiten darinnen ſehe/ ſo ſihe ich mich doch dabey vor/ daß nicht unter denſelben
mir einige andere gefaͤhrlich vorgebracht moͤgen werden. Was nach mahl andere
lehren anlanget/ finde ich abermahl dieſes die beſte art/ die ich auch andern am
liebſten vorſchlagen wolte. Wo ich nemlich eine lehre hoͤre und leſe/ unterſuche
ich/ ob ſolche gantz deutlich aus Gottes wort erwieſen werde/ alſo daß ich ſelbſt in
meinem gewiſſen uͤberzeugt bin/ daß dieſes entweder dem buchſtaben nach/ oder
durch eine mir ſelbſt einleuchtende gewiſſe conſequentz damit uͤberein komme;
ſo mag ichs auch mit getroſtem hertzen annehmen/ es weꝛde miꝛ auch voꝛgetragen
von wem es wolle. Sihe ich aber/ daß es offenbarlich mit ſolcher Goͤttlichen uns
in der ſchrifft dargelegten wahrheit ſtreitet/ ſo verwerffe ichs billich. Wo es aber
ſo bewandt iſt/ daß ich mich zu ſchwach finde davon zu urtheilen/ wie es offt ge-
ſchehen kan/ daß ich weder die einſtim̃ung mit der ſchrifft noch dero wider ſpruch/
alſo erkenne/ daß ich in meiner ſeelen deroſelben uͤberzeugt bin/ ſo laſſe ich ſolche
ſache beruhen/ urtheile weder dieſes noch jenes/ um mich nicht auf eine oder an-
dere art zu vergreiffen/ ruffe aber Gott hertzlich an/ wo mirs noͤtig/ auch in ſolcher
ſache eine gewißheit zu geben. Wo wir dieſe art zu handlen in acht nehmen/
wird uns keiner mit ſchrifften oder reden verfuͤhren/ wie groſſen ſchein der gottſe-
ligkeit er vorgebe (wie es etwa auch zu unſern zeiten dergleichen irr-geiſter mag
gegeben haben/ oder noch geben) und uns damit zu beſtricken ſich unterſtuͤnde.
Dann meine grund-lehr bleibet mir feſt/ und darinn habe ich mich durch Goͤtt-
liche gnade alſo befeſtiget/ daß mich darinn keiner eines andern bereden mag: in
den uͤbrigen lehren/ da die gottſeligkeit zum vorwand gebraucht wird/ nehme ich
nicht mehr noch weniger an/ als was die ſchrift mir klar bezeugt/ u. uͤberlaſſe alles
uͤbrige ſeinen autoribus. Hingegen verwahre ich mich auf ſolche art auch auf der
andern ſeiten/ daß ich nichts als teuffelich verdamme/ was vielleicht mir zwar zu
hoch/ aber von einem Goͤttlichen principio herkommen moͤchte. Worinn oͤffters
von uns auch aus blindem eyffer gefehlet zu werden/ und ſolche fehler viel gefaͤhr-
licher achte/ als es ins gemein geſchaͤtzet wird: weswegen nicht leugne/ daß ich
in ſolcher ſach gern langſam und ſehr behutſam gehe. Zwiſchen allen ſolchen ge-
fahren und verfuͤhrungen bleibets aber auch freylich dabey/ daß die kirche Gottes
nicht mag von den pforten der hoͤllen uͤberwaͤltiget werden: nur daß wir dieſelbe
nicht bloß in einer aͤuſſerlichen ſichtbarlichen gemeinde (dann ſolche der kirchen
facies kan wohl eine zeitlang verſchwinden/ und wer weiß/ wie nahe wir dabey
ſind/ daß der HERR jenem Babel moͤchte ſo viel gewalt geben/ daß man kaum
einigen ſichtbaren hauffen/ ich will nicht ſagen der recht-glaͤubigen/ ſondern
nur recht-lehrenden/ eine weile mehr zu ſehen haben doͤrffte?) ſuche/ ſondern

er-
Ggg 3
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[421/0439] ARTIC. I. DISTINCTIO III. SECT. XXII. werden vermoͤgen/ als wir von natur ſind. Finde ich diefen grund unverruckt/ und daß ſich alles hierauf bauet/ ſo erkenne ich ſolche Goͤttl. wahrheit mit danck und gehorſam; ſolte ich aber einen andern grund antreffen/ ſo verwerffe ichs mit allem recht/ und ob ich ſchon ſonſten einige ſcheinbare und unverwerffliche wahr- heiten darinnen ſehe/ ſo ſihe ich mich doch dabey vor/ daß nicht unter denſelben mir einige andere gefaͤhrlich vorgebracht moͤgen werden. Was nach mahl andere lehren anlanget/ finde ich abermahl dieſes die beſte art/ die ich auch andern am liebſten vorſchlagen wolte. Wo ich nemlich eine lehre hoͤre und leſe/ unterſuche ich/ ob ſolche gantz deutlich aus Gottes wort erwieſen werde/ alſo daß ich ſelbſt in meinem gewiſſen uͤberzeugt bin/ daß dieſes entweder dem buchſtaben nach/ oder durch eine mir ſelbſt einleuchtende gewiſſe conſequentz damit uͤberein komme; ſo mag ichs auch mit getroſtem hertzen annehmen/ es weꝛde miꝛ auch voꝛgetragen von wem es wolle. Sihe ich aber/ daß es offenbarlich mit ſolcher Goͤttlichen uns in der ſchrifft dargelegten wahrheit ſtreitet/ ſo verwerffe ichs billich. Wo es aber ſo bewandt iſt/ daß ich mich zu ſchwach finde davon zu urtheilen/ wie es offt ge- ſchehen kan/ daß ich weder die einſtim̃ung mit der ſchrifft noch dero wider ſpruch/ alſo erkenne/ daß ich in meiner ſeelen deroſelben uͤberzeugt bin/ ſo laſſe ich ſolche ſache beruhen/ urtheile weder dieſes noch jenes/ um mich nicht auf eine oder an- dere art zu vergreiffen/ ruffe aber Gott hertzlich an/ wo mirs noͤtig/ auch in ſolcher ſache eine gewißheit zu geben. Wo wir dieſe art zu handlen in acht nehmen/ wird uns keiner mit ſchrifften oder reden verfuͤhren/ wie groſſen ſchein der gottſe- ligkeit er vorgebe (wie es etwa auch zu unſern zeiten dergleichen irr-geiſter mag gegeben haben/ oder noch geben) und uns damit zu beſtricken ſich unterſtuͤnde. Dann meine grund-lehr bleibet mir feſt/ und darinn habe ich mich durch Goͤtt- liche gnade alſo befeſtiget/ daß mich darinn keiner eines andern bereden mag: in den uͤbrigen lehren/ da die gottſeligkeit zum vorwand gebraucht wird/ nehme ich nicht mehr noch weniger an/ als was die ſchrift mir klar bezeugt/ u. uͤberlaſſe alles uͤbrige ſeinen autoribus. Hingegen verwahre ich mich auf ſolche art auch auf der andern ſeiten/ daß ich nichts als teuffelich verdamme/ was vielleicht mir zwar zu hoch/ aber von einem Goͤttlichen principio herkommen moͤchte. Worinn oͤffters von uns auch aus blindem eyffer gefehlet zu werden/ und ſolche fehler viel gefaͤhr- licher achte/ als es ins gemein geſchaͤtzet wird: weswegen nicht leugne/ daß ich in ſolcher ſach gern langſam und ſehr behutſam gehe. Zwiſchen allen ſolchen ge- fahren und verfuͤhrungen bleibets aber auch freylich dabey/ daß die kirche Gottes nicht mag von den pforten der hoͤllen uͤberwaͤltiget werden: nur daß wir dieſelbe nicht bloß in einer aͤuſſerlichen ſichtbarlichen gemeinde (dann ſolche der kirchen facies kan wohl eine zeitlang verſchwinden/ und wer weiß/ wie nahe wir dabey ſind/ daß der HERR jenem Babel moͤchte ſo viel gewalt geben/ daß man kaum einigen ſichtbaren hauffen/ ich will nicht ſagen der recht-glaͤubigen/ ſondern nur recht-lehrenden/ eine weile mehr zu ſehen haben doͤrffte?) ſuche/ ſondern er- Ggg 3

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Zitationshilfe: Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 3. Halle (Saale), 1702, S. 421. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken03_1702/439>, abgerufen am 25.11.2024.