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Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 2. Halle (Saale), 1701.

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ARTIC. II. SECTIO XXXI.
sicherheit auffwecken wollen/ ausgeschlagen/ wol gar vor gefährliche anfech-
tungen des satans gehalten/ und der gnaden-verheissung mißbraucht habe.
Gewißlich die redliche forschung unsers gewissens wird uns alle in unserm
vorigen leben vieles dessen überzeugen/ und die vor GOTT schuldige demuth
fordert solche erkäntnüß. Hie möchte aber ein angefochtener sagen/ so wird
mir nicht geholffen/ die angst meiner sünden quälet mich ohne das/ und nimmt
mir allen trost/ wie soll ich dieselbe mit noch mehrer vorstellung schwehrer ma-
chen/ und noch tieffer hinab trucken/ da ich ohne das in dem tieffen schlamm
versincke? Aber hierauf ist zu antworten/ daß das allererste und nöthigste
mittel zu rechtem trost zu kommen/ seye die reinigung seines gewissens; und
je sorgfältiger sie angestellet wird/ je gründlicher wird geholffen. Und gilts
nicht zu sagen/ wo eine wunde schmertzet/ man dörffte dieselbe mit reinigung
und wegnehmung des faulen fleisches und dergleichen nicht angreiffen/ noch
zu den vorigen schmertzen neue machen/ als die ohne das weh genug thun/ son-
dern man suche linderung. Da aber ein verständiger wund-artzt und patient
wol wissen/ es seyen solche schmertzen recht die vorbereitung zu den heil-pfla-
stern/ und wo es inwendig eytericht bleibet/ so müsse die wunde wieder auff-
brechen/ die zu eilig zugeheilet worden. Und woher kommts/ daß der vorige
trost/ da ich bey guten tagen mich so gantz leicht trösten und göttlicher gnade
versichern konte/ so bald als eine zeitliche trübsaal mich überfallen/ dahingehet
und verschwindet? Als daß gemeiniglich unsere vorige gewissens-curen pal-
liativae
seynd/ und nicht so wol den schaden zu reinigen/ als gleich zuzuheilen
gemeint gewesen: Daher das geringste symptoma macht den schaden neu und
viel ärger. Und lasset uns in unsere hertzen gehen/ wie wir uns etwa insge-
mein uns unserer sünden erinnert haben: Jsts nicht obenhin geschehen?
Haben wir auch die macht und greuel derselben jemal also erkant/ biß uns der
HErr einen funcken seines zorns hat in die hertzen fallen lassen? Haben wir
geglaubet/ daß wir so böse seyen/ als uns jetzo der zorn GOttes zu fühlen gi-
bet? Haben wir nicht insgemein pflegen unser leben mehr aus gegenhaltung
anderer/ gegen welche zu rechnen wir so viel gutes an uns zu haben gedacht/ zu
rechtfertigen/ als aus der einigen regel göttlichen gebots und prüffung nach
derselbigen zu beschuldigen? Ja haben wir noch biß daher GOttes heilige
gerechtigkeit gepriesen/ daß wir wahrhafftig erkant/ wir haben alles dieses
und noch die ewige straffen gantz wol verdienet/ und daß wir nicht längst dar-
ein gestürtzet/ seye ein grosses schonen seiner barmhertzigkeit? Wo solche er-
käntnüß nicht nur in den gedancken/ sondern wahrhafftig in dem hertzen ist/
daß wir uns allein der straffe würdig/ nicht aber der gnade werth achten/ und
geben GOttes gericht über uns recht/ lieber wollende/ daß wir leiden als sei-
ne gerechtigkeit zurück bleiben solte/ so wird damit am kräfftigsten das mur-

ren

ARTIC. II. SECTIO XXXI.
ſicherheit auffwecken wollen/ ausgeſchlagen/ wol gar vor gefaͤhrliche anfech-
tungen des ſatans gehalten/ und der gnaden-verheiſſung mißbraucht habe.
Gewißlich die redliche forſchung unſers gewiſſens wird uns alle in unſerm
vorigen leben vieles deſſen uͤberzeugen/ und die vor GOTT ſchuldige demuth
fordert ſolche erkaͤntnuͤß. Hie moͤchte aber ein angefochtener ſagen/ ſo wird
mir nicht geholffen/ die angſt meiner ſuͤnden quaͤlet mich ohne das/ und nimmt
mir allen troſt/ wie ſoll ich dieſelbe mit noch mehrer vorſtellung ſchwehrer ma-
chen/ und noch tieffer hinab trucken/ da ich ohne das in dem tieffen ſchlamm
verſincke? Aber hierauf iſt zu antworten/ daß das allererſte und noͤthigſte
mittel zu rechtem troſt zu kommen/ ſeye die reinigung ſeines gewiſſens; und
je ſorgfaͤltiger ſie angeſtellet wird/ je gruͤndlicher wird geholffen. Und gilts
nicht zu ſagen/ wo eine wunde ſchmertzet/ man doͤrffte dieſelbe mit reinigung
und wegnehmung des faulen fleiſches und dergleichen nicht angreiffen/ noch
zu den vorigen ſchmertzen neue machen/ als die ohne das weh genug thun/ ſon-
dern man ſuche linderung. Da aber ein verſtaͤndiger wund-artzt und patient
wol wiſſen/ es ſeyen ſolche ſchmertzen recht die vorbereitung zu den heil-pfla-
ſtern/ und wo es inwendig eytericht bleibet/ ſo muͤſſe die wunde wieder auff-
brechen/ die zu eilig zugeheilet worden. Und woher kommts/ daß der vorige
troſt/ da ich bey guten tagen mich ſo gantz leicht troͤſten und goͤttlicher gnade
verſichern konte/ ſo bald als eine zeitliche truͤbſaal mich uͤberfallen/ dahingehet
und verſchwindet? Als daß gemeiniglich unſere vorige gewiſſens-curen pal-
liativæ
ſeynd/ und nicht ſo wol den ſchaden zu reinigen/ als gleich zuzuheilen
gemeint geweſen: Daher das geringſte ſymptoma macht den ſchaden neu und
viel aͤrger. Und laſſet uns in unſere hertzen gehen/ wie wir uns etwa insge-
mein uns unſerer ſuͤnden erinnert haben: Jſts nicht obenhin geſchehen?
Haben wir auch die macht und greuel derſelben jemal alſo erkant/ biß uns der
HErr einen funcken ſeines zorns hat in die hertzen fallen laſſen? Haben wir
geglaubet/ daß wir ſo boͤſe ſeyen/ als uns jetzo der zorn GOttes zu fuͤhlen gi-
bet? Haben wir nicht insgemein pflegen unſer leben mehr aus gegenhaltung
anderer/ gegen welche zu rechnen wir ſo viel gutes an uns zu haben gedacht/ zu
rechtfertigen/ als aus der einigen regel goͤttlichen gebots und pruͤffung nach
derſelbigen zu beſchuldigen? Ja haben wir noch biß daher GOttes heilige
gerechtigkeit geprieſen/ daß wir wahrhafftig erkant/ wir haben alles dieſes
und noch die ewige ſtraffen gantz wol verdienet/ und daß wir nicht laͤngſt dar-
ein geſtuͤrtzet/ ſeye ein groſſes ſchonen ſeiner barmhertzigkeit? Wo ſolche er-
kaͤntnuͤß nicht nur in den gedancken/ ſondern wahrhafftig in dem hertzen iſt/
daß wir uns allein der ſtraffe wuͤrdig/ nicht aber der gnade werth achten/ und
geben GOttes gericht uͤber uns recht/ lieber wollende/ daß wir leiden als ſei-
ne gerechtigkeit zuruͤck bleiben ſolte/ ſo wird damit am kraͤfftigſten das mur-

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[847/0855] ARTIC. II. SECTIO XXXI. ſicherheit auffwecken wollen/ ausgeſchlagen/ wol gar vor gefaͤhrliche anfech- tungen des ſatans gehalten/ und der gnaden-verheiſſung mißbraucht habe. Gewißlich die redliche forſchung unſers gewiſſens wird uns alle in unſerm vorigen leben vieles deſſen uͤberzeugen/ und die vor GOTT ſchuldige demuth fordert ſolche erkaͤntnuͤß. Hie moͤchte aber ein angefochtener ſagen/ ſo wird mir nicht geholffen/ die angſt meiner ſuͤnden quaͤlet mich ohne das/ und nimmt mir allen troſt/ wie ſoll ich dieſelbe mit noch mehrer vorſtellung ſchwehrer ma- chen/ und noch tieffer hinab trucken/ da ich ohne das in dem tieffen ſchlamm verſincke? Aber hierauf iſt zu antworten/ daß das allererſte und noͤthigſte mittel zu rechtem troſt zu kommen/ ſeye die reinigung ſeines gewiſſens; und je ſorgfaͤltiger ſie angeſtellet wird/ je gruͤndlicher wird geholffen. Und gilts nicht zu ſagen/ wo eine wunde ſchmertzet/ man doͤrffte dieſelbe mit reinigung und wegnehmung des faulen fleiſches und dergleichen nicht angreiffen/ noch zu den vorigen ſchmertzen neue machen/ als die ohne das weh genug thun/ ſon- dern man ſuche linderung. Da aber ein verſtaͤndiger wund-artzt und patient wol wiſſen/ es ſeyen ſolche ſchmertzen recht die vorbereitung zu den heil-pfla- ſtern/ und wo es inwendig eytericht bleibet/ ſo muͤſſe die wunde wieder auff- brechen/ die zu eilig zugeheilet worden. Und woher kommts/ daß der vorige troſt/ da ich bey guten tagen mich ſo gantz leicht troͤſten und goͤttlicher gnade verſichern konte/ ſo bald als eine zeitliche truͤbſaal mich uͤberfallen/ dahingehet und verſchwindet? Als daß gemeiniglich unſere vorige gewiſſens-curen pal- liativæ ſeynd/ und nicht ſo wol den ſchaden zu reinigen/ als gleich zuzuheilen gemeint geweſen: Daher das geringſte ſymptoma macht den ſchaden neu und viel aͤrger. Und laſſet uns in unſere hertzen gehen/ wie wir uns etwa insge- mein uns unſerer ſuͤnden erinnert haben: Jſts nicht obenhin geſchehen? Haben wir auch die macht und greuel derſelben jemal alſo erkant/ biß uns der HErr einen funcken ſeines zorns hat in die hertzen fallen laſſen? Haben wir geglaubet/ daß wir ſo boͤſe ſeyen/ als uns jetzo der zorn GOttes zu fuͤhlen gi- bet? Haben wir nicht insgemein pflegen unſer leben mehr aus gegenhaltung anderer/ gegen welche zu rechnen wir ſo viel gutes an uns zu haben gedacht/ zu rechtfertigen/ als aus der einigen regel goͤttlichen gebots und pruͤffung nach derſelbigen zu beſchuldigen? Ja haben wir noch biß daher GOttes heilige gerechtigkeit geprieſen/ daß wir wahrhafftig erkant/ wir haben alles dieſes und noch die ewige ſtraffen gantz wol verdienet/ und daß wir nicht laͤngſt dar- ein geſtuͤrtzet/ ſeye ein groſſes ſchonen ſeiner barmhertzigkeit? Wo ſolche er- kaͤntnuͤß nicht nur in den gedancken/ ſondern wahrhafftig in dem hertzen iſt/ daß wir uns allein der ſtraffe wuͤrdig/ nicht aber der gnade werth achten/ und geben GOttes gericht uͤber uns recht/ lieber wollende/ daß wir leiden als ſei- ne gerechtigkeit zuruͤck bleiben ſolte/ ſo wird damit am kraͤfftigſten das mur- ren

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Zitationshilfe: Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 2. Halle (Saale), 1701, S. 847. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken02_1701/855>, abgerufen am 23.11.2024.