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Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 1. Halle (Saale), 1700.

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ARTIC. III. SECTIO XX.
den zustand der gemeinde/ an welcher mein werthester bruder seinem GOtt
dienen soll/ vorstellet. Wo ich bekenne/ daß es ein betrübter zustand/ und so
bewandt ist/ daß er einen/ der denselbigen vor augen sihet/ wohl abschrecken
solte/ die resolution nicht zu nehmen/ an einen solchen ort zu kommen/ oder
sich gebrauchen zu lassen; Aber GOtt überredet uns offtmals wie dorten den
lieben Jeremiam; erschicket es nach seiner himmlischen weißheit/ daß wir die
so grosse beschwehrde und gefahr des amts nicht gantz einsehen müssen/ ehe wir
in demselben würcklich stehen/ und nachmal nicht sehen/ wie wir zurücke kom-
men. Nechst deme so muß demselben zu trost (so zwahr ein betrübter trost ist/
und wolte Gott es stünde anders damit) zeigen/ daß ihre kirche nicht die eini-
ge sey/ welche in diesem elenden stande stehet. Jch will nur von unserm
Franckfurt reden/ wo er ja von einer reichsstadt sich bessere ordnung einbil-
den und hoffen solte. Aber wir haben eben so wohl kein consistorium. Zwahr
ein wochentl. conventus Ecclesiasticus Pastorum wird gehalten/ wo wir pa-
stores
von der nothdurfft miteinander deliberiren/ und allerhand sachen ü-
berlegen/ auch zuweilen einigen hartnäckigen zuhörern ernstlich zusprechen: a-
ber wir haben keine weitere gewalt die refractarios zu coerciren/ sondern
müssen solches mit klage bey der obrigkeit suchen. Also ist auch die rechte di-
sciplina ecclesiastica
uns gantz fremde/ und alle unsere drohungen gegen die
widerspenstige werden von ihnen secure verlachet/ als die wissen/ daß kein
nachdruck darhinter ist/ und wir niemand zu excludiren die macht haben. 2.
Wir haben auch keine presbyteros, die etwa neben den predigern auf das le-
ben acht geben/ und censores morum wären/ so sonsten etwa gar auf dörffern
gefunden werden/ und wo die anstalt recht gebraucht wird/ sie vielen nutzen
bringen kan. 3. Wir haben den beichtstuhl/ aber also/ daß ich wünschete/ wir hät-
ten ihn lieber gar nicht/ als auf diese weise: Wie ich als denn keine geringe er-
leichterung meines gewissens haben würde. Wir müssen singulos, und etwa
jeglicher in einer stunde/ 10. 12. 15. 20. absolviren/ daß nur alles auf der post
gehet/ und keine rechtschaffene prüffung geschehen kan: so ists an einem solchen
ort/ daß man mit keinem confitenten etwas sonderbahres geheimes handeln
kan/ daß es nicht alle die umstehenden bemercketen/ und also/ wo jemand zu-
zusprechen ist/ muß es zu hauße geschehen. 4. Wir haben keine sonderbahre
districtus Ecclesiae noch gewisse kirchspiele/ sondern ein jegl. braucht sich pro
libertate sua
deß jenigen pfarrherrn oder kirche die ihm beliebig/ und so lan-
ge es ihm beliebig und jeglicher unter uns muß pfarrherr in der gantzen
statt seyn und seine beicht-kinder aller orten verstreuet haben/ davon er
wohl die helfftenicht kennet oder das wenigste von ihnen weiß/ wegen
der grossen menge. Jn allem solchen stehen wir leider nicht besser als sie/ und
vielleicht in einer volckreichen stadt/ so viel gefährlicher/ als an kleinern orten
nicht seyn kan. Ja ich sehe dieses recht an/ als ein erschreckliches gerichte unsers

GOt-

ARTIC. III. SECTIO XX.
den zuſtand der gemeinde/ an welcher mein wertheſter bruder ſeinem GOtt
dienen ſoll/ vorſtellet. Wo ich bekenne/ daß es ein betruͤbter zuſtand/ und ſo
bewandt iſt/ daß er einen/ der denſelbigen vor augen ſihet/ wohl abſchrecken
ſolte/ die reſolution nicht zu nehmen/ an einen ſolchen ort zu kommen/ oder
ſich gebrauchen zu laſſen; Aber GOtt uͤberredet uns offtmals wie dorten den
lieben Jeremiam; erſchicket es nach ſeiner himmliſchen weißheit/ daß wir die
ſo groſſe beſchwehrde und gefahr des amts nicht gantz einſehen muͤſſen/ ehe wir
in demſelben wuͤrcklich ſtehen/ und nachmal nicht ſehen/ wie wir zuruͤcke kom-
men. Nechſt deme ſo muß demſelben zu troſt (ſo zwahr ein betruͤbter troſt iſt/
und wolte Gott es ſtuͤnde anders damit) zeigen/ daß ihre kirche nicht die eini-
ge ſey/ welche in dieſem elenden ſtande ſtehet. Jch will nur von unſerm
Franckfurt reden/ wo er ja von einer reichsſtadt ſich beſſere ordnung einbil-
den und hoffen ſolte. Aber wir haben eben ſo wohl kein conſiſtorium. Zwahr
ein wochentl. conventus Eccleſiaſticus Paſtorum wird gehalten/ wo wir pa-
ſtores
von der nothdurfft miteinander deliberiren/ und allerhand ſachen uͤ-
berlegen/ auch zuweilen einigen hartnaͤckigen zuhoͤrern ernſtlich zuſprechen: a-
ber wir haben keine weitere gewalt die refractarios zu coerciren/ ſondern
muͤſſen ſolches mit klage bey der obrigkeit ſuchen. Alſo iſt auch die rechte di-
ſciplina eccleſiaſtica
uns gantz fremde/ und alle unſere drohungen gegen die
widerſpenſtige werden von ihnen ſecurè verlachet/ als die wiſſen/ daß kein
nachdruck darhinter iſt/ und wir niemand zu excludiren die macht haben. 2.
Wir haben auch keine presbyteros, die etwa neben den predigern auf das le-
ben acht geben/ und cenſores morum waͤren/ ſo ſonſten etwa gar auf doͤrffern
gefunden werden/ und wo die anſtalt recht gebraucht wird/ ſie vielen nutzen
bringen kan. 3. Wir haben den beichtſtuhl/ aber alſo/ daß ich wuͤnſchete/ wiꝛ haͤt-
ten ihn lieber gar nicht/ als auf dieſe weiſe: Wie ich als denn keine geringe er-
leichterung meines gewiſſens haben wuͤrde. Wir muͤſſen ſingulos, und etwa
jeglicher in einer ſtunde/ 10. 12. 15. 20. abſolviren/ daß nur alles auf der poſt
gehet/ und keine rechtſchaffene pruͤffung geſchehen kan: ſo iſts an einem ſolchen
ort/ daß man mit keinem confitenten etwas ſonderbahres geheimes handeln
kan/ daß es nicht alle die umſtehenden bemercketen/ und alſo/ wo jemand zu-
zuſprechen iſt/ muß es zu hauße geſchehen. 4. Wir haben keine ſonderbahre
diſtrictus Eccleſiæ noch gewiſſe kirchſpiele/ ſondern ein jegl. braucht ſich pro
libertate ſua
deß jenigen pfarrherrn oder kirche die ihm beliebig/ und ſo lan-
ge es ihm beliebig und jeglicher unter uns muß pfarrherr in der gantzen
ſtatt ſeyn und ſeine beicht-kinder aller orten verſtreuet haben/ davon er
wohl die helfftenicht kennet oder das wenigſte von ihnen weiß/ wegen
der groſſen menge. Jn allem ſolchen ſtehen wir leider nicht beſſer als ſie/ und
vielleicht in einer volckreichen ſtadt/ ſo viel gefaͤhrlicher/ als an kleinern orten
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GOt-
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[695/0711] ARTIC. III. SECTIO XX. den zuſtand der gemeinde/ an welcher mein wertheſter bruder ſeinem GOtt dienen ſoll/ vorſtellet. Wo ich bekenne/ daß es ein betruͤbter zuſtand/ und ſo bewandt iſt/ daß er einen/ der denſelbigen vor augen ſihet/ wohl abſchrecken ſolte/ die reſolution nicht zu nehmen/ an einen ſolchen ort zu kommen/ oder ſich gebrauchen zu laſſen; Aber GOtt uͤberredet uns offtmals wie dorten den lieben Jeremiam; erſchicket es nach ſeiner himmliſchen weißheit/ daß wir die ſo groſſe beſchwehrde und gefahr des amts nicht gantz einſehen muͤſſen/ ehe wir in demſelben wuͤrcklich ſtehen/ und nachmal nicht ſehen/ wie wir zuruͤcke kom- men. Nechſt deme ſo muß demſelben zu troſt (ſo zwahr ein betruͤbter troſt iſt/ und wolte Gott es ſtuͤnde anders damit) zeigen/ daß ihre kirche nicht die eini- ge ſey/ welche in dieſem elenden ſtande ſtehet. Jch will nur von unſerm Franckfurt reden/ wo er ja von einer reichsſtadt ſich beſſere ordnung einbil- den und hoffen ſolte. Aber wir haben eben ſo wohl kein conſiſtorium. Zwahr ein wochentl. conventus Eccleſiaſticus Paſtorum wird gehalten/ wo wir pa- ſtores von der nothdurfft miteinander deliberiren/ und allerhand ſachen uͤ- berlegen/ auch zuweilen einigen hartnaͤckigen zuhoͤrern ernſtlich zuſprechen: a- ber wir haben keine weitere gewalt die refractarios zu coerciren/ ſondern muͤſſen ſolches mit klage bey der obrigkeit ſuchen. Alſo iſt auch die rechte di- ſciplina eccleſiaſtica uns gantz fremde/ und alle unſere drohungen gegen die widerſpenſtige werden von ihnen ſecurè verlachet/ als die wiſſen/ daß kein nachdruck darhinter iſt/ und wir niemand zu excludiren die macht haben. 2. Wir haben auch keine presbyteros, die etwa neben den predigern auf das le- ben acht geben/ und cenſores morum waͤren/ ſo ſonſten etwa gar auf doͤrffern gefunden werden/ und wo die anſtalt recht gebraucht wird/ ſie vielen nutzen bringen kan. 3. Wir haben den beichtſtuhl/ aber alſo/ daß ich wuͤnſchete/ wiꝛ haͤt- ten ihn lieber gar nicht/ als auf dieſe weiſe: Wie ich als denn keine geringe er- leichterung meines gewiſſens haben wuͤrde. Wir muͤſſen ſingulos, und etwa jeglicher in einer ſtunde/ 10. 12. 15. 20. abſolviren/ daß nur alles auf der poſt gehet/ und keine rechtſchaffene pruͤffung geſchehen kan: ſo iſts an einem ſolchen ort/ daß man mit keinem confitenten etwas ſonderbahres geheimes handeln kan/ daß es nicht alle die umſtehenden bemercketen/ und alſo/ wo jemand zu- zuſprechen iſt/ muß es zu hauße geſchehen. 4. Wir haben keine ſonderbahre diſtrictus Eccleſiæ noch gewiſſe kirchſpiele/ ſondern ein jegl. braucht ſich pro libertate ſua deß jenigen pfarrherrn oder kirche die ihm beliebig/ und ſo lan- ge es ihm beliebig und jeglicher unter uns muß pfarrherr in der gantzen ſtatt ſeyn und ſeine beicht-kinder aller orten verſtreuet haben/ davon er wohl die helfftenicht kennet oder das wenigſte von ihnen weiß/ wegen der groſſen menge. Jn allem ſolchen ſtehen wir leider nicht beſſer als ſie/ und vielleicht in einer volckreichen ſtadt/ ſo viel gefaͤhrlicher/ als an kleinern orten nicht ſeyn kan. Ja ich ſehe dieſes recht an/ als ein erſchreckliches gerichte unſers GOt-

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Zitationshilfe: Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 1. Halle (Saale), 1700, S. 695. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken01_1700/711>, abgerufen am 22.11.2024.