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Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 1. Halle (Saale), 1700.

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ARTIC. VI. SECT. XI.
seinigen armes leben zu retten siehet/ so gläube ich/ daß der Vater der barm-
hertzigkeit mit ihm gedult tragen/ und seine gnade nicht entziehen/ hingegen ihm
hülffe zuschicken werde/ ihn auch aus solcher versuchung endlich zu retten. 6.
Dergleichen nun zu glauben verursachet mich/ daß ich nicht davor halte/ daß
leicht eines solchen menschen gewissen zur gnüge werde überzeuget werden/ daß
diese sache mit solchen umständen vor GOTT sünde sey/ sondern ob er wol
auff das klahre wort nicht antworten kan/ so wird gleichwol immer die anse-
hung der noth ihm eine ausnehmung machen. Nun ist zwar nicht ohn/ daß
solches bloß dahin an sich selbs von der sünde nicht entschuldigte/ indem jede
sünder sich fast einige einbildungen/ daß ihr thun nicht so unrecht seyn würde/
machen: indessen thuts doch so viel/ daß es nicht mit einem völligen wieder-
spruch des gewissen geschiehet was er thut/ und solche ausnahme dieses falles
hat ihre scheinbare gründe/ um dero willen GOTT ihnen eine unwissenheit
mehr zu gut hält. 7. Dann unterschiedliche auch Christliche lehrer in den ge-
dancken sind/ daß in der eussersten hungersnoth einer macht habe von des andern
gütern seinen hunger zu stillen/ indem die abtheilung der güter/ als zu des mensch-
lichen geschlechts wohlfart eingeführet/ die bedingung solcher eussersten noth
in sich fasse/ oder vielmehr ausnehme. Ob dann wol andere solchen ausspruch
widersprechen/ und auch solche vor sünden halten/ wie denn sie auffs wenig-
ste zugeben/ daß GOTT mit einer solchen der seinigen schwachheit gedult tra-
ge. Mit diesem fall kommet aber der unsrige nahe überein. Ja 8. solte man
davor halten/ daß diese sünde gegen die Obrigkeit so viel geringer wäre/ weil
sie wahrhafftig von GOTT nicht das recht hat/ die unterthanen mit zuschwe-
ren lasten zubelegen/ dahero auch die Obrigkeit das erste unrecht/ und zwar
das allerschwehreste/ auff ihrer seit begehet/ ob dann wol dasselbe die unter-
thanen/ wie oben gemeldet/ ihrer pflicht nicht gantz entbindet/ ist gleichwol
die sünde dessen so viel geringer/ welcher der ungerechten Obrigkeit aus ihren
eigenen das ungerecht abgeforderte abstattet/ als einem andern/ der einem
aus eusserster noth das seinige nimmet. 9. Erinnere ich mich des exempels
der Jsraeliten/ die als ihnen die Egyptier vor ihre lange dienste keinen lohn
gegeben/ noch hätten geben werden/ als zur compensation ihres verdienstes
von denenselben gold/ silber und anders dergleichen entlehneten/ und ihnen ent-
wandten. Denn ob wol solches ausdrücklich von Gott befohlen worden/ und da-
her die sache gantz recht machte/ so wir hienicht sagen könen/ so sehen wir/ daß gleich-
wol die entziehung dessen/ was einem andern zugehöret/ und er seine schuldigkeit
zurück hält/ eine sache seye/ die der göttlichen gerechtigkeit nicht bloß ungemäß/
und also zuweilen gantz ohne sünde seye/ gleichwie da sie GOtt selbs befiehlet/
zu andernmalen aber und in mangel solcher autorität die sünde so viel geringer
mache/ indem die sache nicht bloß in ihrer natur so böse/ daß sie nicht in einigen

um-

ARTIC. VI. SECT. XI.
ſeinigen armes leben zu retten ſiehet/ ſo glaͤube ich/ daß der Vater der barm-
hertzigkeit mit ihm gedult tragen/ und ſeine gnade nicht entziehen/ hingegen ihm
huͤlffe zuſchicken werde/ ihn auch aus ſolcher verſuchung endlich zu retten. 6.
Dergleichen nun zu glauben verurſachet mich/ daß ich nicht davor halte/ daß
leicht eines ſolchen menſchen gewiſſen zur gnuͤge werde uͤberzeuget werden/ daß
dieſe ſache mit ſolchen umſtaͤnden vor GOTT ſuͤnde ſey/ ſondern ob er wol
auff das klahre wort nicht antworten kan/ ſo wird gleichwol immer die anſe-
hung der noth ihm eine ausnehmung machen. Nun iſt zwar nicht ohn/ daß
ſolches bloß dahin an ſich ſelbs von der ſuͤnde nicht entſchuldigte/ indem jede
ſuͤnder ſich faſt einige einbildungen/ daß ihr thun nicht ſo unrecht ſeyn wuͤrde/
machen: indeſſen thuts doch ſo viel/ daß es nicht mit einem voͤlligen wieder-
ſpruch des gewiſſen geſchiehet was er thut/ und ſolche ausnahme dieſes falles
hat ihre ſcheinbare gruͤnde/ um dero willen GOTT ihnen eine unwiſſenheit
mehr zu gut haͤlt. 7. Dann unterſchiedliche auch Chriſtliche lehrer in den ge-
dancken ſind/ daß in der euſſerſten hungersnoth einer macht habe von des andern
guͤtern ſeinen hunger zu ſtillen/ indem die abtheilung der guͤter/ als zu des menſch-
lichen geſchlechts wohlfart eingefuͤhret/ die bedingung ſolcher euſſerſten noth
in ſich faſſe/ oder vielmehr ausnehme. Ob dann wol andere ſolchen ausſpruch
widerſprechen/ und auch ſolche vor ſuͤnden halten/ wie denn ſie auffs wenig-
ſte zugeben/ daß GOTT mit einer ſolchen der ſeinigen ſchwachheit gedult tra-
ge. Mit dieſem fall kommet aber der unſrige nahe uͤberein. Ja 8. ſolte man
davor halten/ daß dieſe ſuͤnde gegen die Obrigkeit ſo viel geringer waͤre/ weil
ſie wahrhafftig von GOTT nicht das recht hat/ die unterthanen mit zuſchwe-
ren laſten zubelegen/ dahero auch die Obrigkeit das erſte unrecht/ und zwar
das allerſchwehreſte/ auff ihrer ſeit begehet/ ob dann wol daſſelbe die unter-
thanen/ wie oben gemeldet/ ihrer pflicht nicht gantz entbindet/ iſt gleichwol
die ſuͤnde deſſen ſo viel geringer/ welcher der ungerechten Obrigkeit aus ihren
eigenen das ungerecht abgeforderte abſtattet/ als einem andern/ der einem
aus euſſerſter noth das ſeinige nimmet. 9. Erinnere ich mich des exempels
der Jſraeliten/ die als ihnen die Egyptier vor ihre lange dienſte keinen lohn
gegeben/ noch haͤtten geben werden/ als zur compenſation ihres verdienſtes
von denenſelben gold/ ſilber und anders dergleichen entlehneten/ und ihnen ent-
wandten. Denn ob wol ſolches ausdruͤcklich von Gott befohlen worden/ und da-
her die ſache gantz recht machte/ ſo wir hienicht ſagen koͤnen/ ſo ſehen wir/ daß gleich-
wol die entziehung deſſen/ was einem andern zugehoͤret/ und er ſeine ſchuldigkeit
zuruͤck haͤlt/ eine ſache ſeye/ die der goͤttlichen gerechtigkeit nicht bloß ungemaͤß/
und alſo zuweilen gantz ohne ſuͤnde ſeye/ gleichwie da ſie GOtt ſelbs befiehlet/
zu andernmalen aber und in mangel ſolcher autoritaͤt die ſuͤnde ſo viel geringer
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[223/1023] ARTIC. VI. SECT. XI. ſeinigen armes leben zu retten ſiehet/ ſo glaͤube ich/ daß der Vater der barm- hertzigkeit mit ihm gedult tragen/ und ſeine gnade nicht entziehen/ hingegen ihm huͤlffe zuſchicken werde/ ihn auch aus ſolcher verſuchung endlich zu retten. 6. Dergleichen nun zu glauben verurſachet mich/ daß ich nicht davor halte/ daß leicht eines ſolchen menſchen gewiſſen zur gnuͤge werde uͤberzeuget werden/ daß dieſe ſache mit ſolchen umſtaͤnden vor GOTT ſuͤnde ſey/ ſondern ob er wol auff das klahre wort nicht antworten kan/ ſo wird gleichwol immer die anſe- hung der noth ihm eine ausnehmung machen. Nun iſt zwar nicht ohn/ daß ſolches bloß dahin an ſich ſelbs von der ſuͤnde nicht entſchuldigte/ indem jede ſuͤnder ſich faſt einige einbildungen/ daß ihr thun nicht ſo unrecht ſeyn wuͤrde/ machen: indeſſen thuts doch ſo viel/ daß es nicht mit einem voͤlligen wieder- ſpruch des gewiſſen geſchiehet was er thut/ und ſolche ausnahme dieſes falles hat ihre ſcheinbare gruͤnde/ um dero willen GOTT ihnen eine unwiſſenheit mehr zu gut haͤlt. 7. Dann unterſchiedliche auch Chriſtliche lehrer in den ge- dancken ſind/ daß in der euſſerſten hungersnoth einer macht habe von des andern guͤtern ſeinen hunger zu ſtillen/ indem die abtheilung der guͤter/ als zu des menſch- lichen geſchlechts wohlfart eingefuͤhret/ die bedingung ſolcher euſſerſten noth in ſich faſſe/ oder vielmehr ausnehme. Ob dann wol andere ſolchen ausſpruch widerſprechen/ und auch ſolche vor ſuͤnden halten/ wie denn ſie auffs wenig- ſte zugeben/ daß GOTT mit einer ſolchen der ſeinigen ſchwachheit gedult tra- ge. Mit dieſem fall kommet aber der unſrige nahe uͤberein. Ja 8. ſolte man davor halten/ daß dieſe ſuͤnde gegen die Obrigkeit ſo viel geringer waͤre/ weil ſie wahrhafftig von GOTT nicht das recht hat/ die unterthanen mit zuſchwe- ren laſten zubelegen/ dahero auch die Obrigkeit das erſte unrecht/ und zwar das allerſchwehreſte/ auff ihrer ſeit begehet/ ob dann wol daſſelbe die unter- thanen/ wie oben gemeldet/ ihrer pflicht nicht gantz entbindet/ iſt gleichwol die ſuͤnde deſſen ſo viel geringer/ welcher der ungerechten Obrigkeit aus ihren eigenen das ungerecht abgeforderte abſtattet/ als einem andern/ der einem aus euſſerſter noth das ſeinige nimmet. 9. Erinnere ich mich des exempels der Jſraeliten/ die als ihnen die Egyptier vor ihre lange dienſte keinen lohn gegeben/ noch haͤtten geben werden/ als zur compenſation ihres verdienſtes von denenſelben gold/ ſilber und anders dergleichen entlehneten/ und ihnen ent- wandten. Denn ob wol ſolches ausdruͤcklich von Gott befohlen worden/ und da- her die ſache gantz recht machte/ ſo wir hienicht ſagen koͤnen/ ſo ſehen wir/ daß gleich- wol die entziehung deſſen/ was einem andern zugehoͤret/ und er ſeine ſchuldigkeit zuruͤck haͤlt/ eine ſache ſeye/ die der goͤttlichen gerechtigkeit nicht bloß ungemaͤß/ und alſo zuweilen gantz ohne ſuͤnde ſeye/ gleichwie da ſie GOtt ſelbs befiehlet/ zu andernmalen aber und in mangel ſolcher autoritaͤt die ſuͤnde ſo viel geringer mache/ indem die ſache nicht bloß in ihrer natur ſo boͤſe/ daß ſie nicht in einigen um-

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Zitationshilfe: Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 1. Halle (Saale), 1700, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken01_1700/1023>, abgerufen am 27.11.2024.