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[Spalding, Johann Joachim]: Betrachtung über die Bestimmung des Menschen. 3. Aufl. Berlin, 1749.

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Sinne so geniessen, daß ich für seine schlimme Früchte sicher
bleibe. Hierin bestehet die grosse Wissenschaft, an welcher
die feinesten Köpfe so lange gearbeitet haben; ihre einzige
Hauptwissenschaft des Lebens. Die Kunst ist freylich nicht
wenig wehrt, die mich lehret, das süsse aus der Wollust her-
auszuziehen, ohne von ihrem Stachel getroffen zu werden;
und wenn dieß gleich vermittelst einer Mässigung und Ent-
haltsamkeit geschehen muß, die mir etwas kostet, so ist doch
der Preis nicht zu hoch, für welchen ich die Befreyung von
Ekel sowol, als nachmaligen Schmerzen, zugleich erkaufe.
Jch geniesse vielleicht weniger Lust, aber sie ist empfindlicher
und daurhafter. Hier schleichen sich keine nagende Sorgen
in das Herz, das nur dem Vergnügen offen stehet. Jn dieser
Folge von Ergetzungen ist zwar Raum für Gedanken und
Behutsamkeit, aber nicht für Kummer und Vorwürfe und
schreckende Einbildungen. Jch unterdrücke meine Vernunft
nicht; ich brauche sie ihrem Zwecke gemäß, und lasse sie, da
ich zum Empfinden lebe, den Empfindungen dienen. So
fliesset dann mein Leben als ein sanfter Bach unbestürmt
zwischen lauter Blumen dahin. -- Und so wäre also ein
ordentlicher Wollüstling dasjenige, was die Natur aus dem
Menschen haben will. --

Nach diesem meinen neuen System geniesse ich nun eine
Zeit lang die Ergetzungen dieses Lebens mit aller Behutsam-
keit und Sorgfalt. -- Und nichts destoweniger finden sich ge-
wisse Augenblicke, da mir ist, als wenn mir etwas fehlet.
Jch kann den Ekel und Ueberdruß mit aller meiner Mühe
nicht vermeiden; ich werde unzufrieden; alles wird mir zur
Last, und ich selbst. Jch zerstreue mich; aber ich spüre bald,
daß ich meinen Unmuth zwar auf eine kleine Zeit vergesse, aber
nicht hebe. Jch nehme meine Zuflucht zu meinen gewohnten
Vergnügungen, zu den unschädlichsten, die ich kenne; allein
in diesen trüben Stunden habe ich gleichsam den Geschmack
daran verlohren; sie sind itzo das nicht, was mich befriedigen

kann;



Sinne ſo genieſſen, daß ich fuͤr ſeine ſchlimme Fruͤchte ſicher
bleibe. Hierin beſtehet die groſſe Wiſſenſchaft, an welcher
die feineſten Koͤpfe ſo lange gearbeitet haben; ihre einzige
Hauptwiſſenſchaft des Lebens. Die Kunſt iſt freylich nicht
wenig wehrt, die mich lehret, das ſuͤſſe aus der Wolluſt her-
auszuziehen, ohne von ihrem Stachel getroffen zu werden;
und wenn dieß gleich vermittelſt einer Maͤſſigung und Ent-
haltſamkeit geſchehen muß, die mir etwas koſtet, ſo iſt doch
der Preis nicht zu hoch, fuͤr welchen ich die Befreyung von
Ekel ſowol, als nachmaligen Schmerzen, zugleich erkaufe.
Jch genieſſe vielleicht weniger Luſt, aber ſie iſt empfindlicher
und daurhafter. Hier ſchleichen ſich keine nagende Sorgen
in das Herz, das nur dem Vergnuͤgen offen ſtehet. Jn dieſer
Folge von Ergetzungen iſt zwar Raum fuͤr Gedanken und
Behutſamkeit, aber nicht fuͤr Kummer und Vorwuͤrfe und
ſchreckende Einbildungen. Jch unterdruͤcke meine Vernunft
nicht; ich brauche ſie ihrem Zwecke gemaͤß, und laſſe ſie, da
ich zum Empfinden lebe, den Empfindungen dienen. So
flieſſet dann mein Leben als ein ſanfter Bach unbeſtuͤrmt
zwiſchen lauter Blumen dahin. — Und ſo waͤre alſo ein
ordentlicher Wolluͤſtling dasjenige, was die Natur aus dem
Menſchen haben will. —

Nach dieſem meinen neuen Syſtem genieſſe ich nun eine
Zeit lang die Ergetzungen dieſes Lebens mit aller Behutſam-
keit und Sorgfalt. — Und nichts deſtoweniger finden ſich ge-
wiſſe Augenblicke, da mir iſt, als wenn mir etwas fehlet.
Jch kann den Ekel und Ueberdruß mit aller meiner Muͤhe
nicht vermeiden; ich werde unzufrieden; alles wird mir zur
Laſt, und ich ſelbſt. Jch zerſtreue mich; aber ich ſpuͤre bald,
daß ich meinen Unmuth zwar auf eine kleine Zeit vergeſſe, aber
nicht hebe. Jch nehme meine Zuflucht zu meinen gewohnten
Vergnuͤgungen, zu den unſchaͤdlichſten, die ich kenne; allein
in dieſen truͤben Stunden habe ich gleichſam den Geſchmack
daran verlohren; ſie ſind itzo das nicht, was mich befriedigen

kann;
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[7/0017] Sinne ſo genieſſen, daß ich fuͤr ſeine ſchlimme Fruͤchte ſicher bleibe. Hierin beſtehet die groſſe Wiſſenſchaft, an welcher die feineſten Koͤpfe ſo lange gearbeitet haben; ihre einzige Hauptwiſſenſchaft des Lebens. Die Kunſt iſt freylich nicht wenig wehrt, die mich lehret, das ſuͤſſe aus der Wolluſt her- auszuziehen, ohne von ihrem Stachel getroffen zu werden; und wenn dieß gleich vermittelſt einer Maͤſſigung und Ent- haltſamkeit geſchehen muß, die mir etwas koſtet, ſo iſt doch der Preis nicht zu hoch, fuͤr welchen ich die Befreyung von Ekel ſowol, als nachmaligen Schmerzen, zugleich erkaufe. Jch genieſſe vielleicht weniger Luſt, aber ſie iſt empfindlicher und daurhafter. Hier ſchleichen ſich keine nagende Sorgen in das Herz, das nur dem Vergnuͤgen offen ſtehet. Jn dieſer Folge von Ergetzungen iſt zwar Raum fuͤr Gedanken und Behutſamkeit, aber nicht fuͤr Kummer und Vorwuͤrfe und ſchreckende Einbildungen. Jch unterdruͤcke meine Vernunft nicht; ich brauche ſie ihrem Zwecke gemaͤß, und laſſe ſie, da ich zum Empfinden lebe, den Empfindungen dienen. So flieſſet dann mein Leben als ein ſanfter Bach unbeſtuͤrmt zwiſchen lauter Blumen dahin. — Und ſo waͤre alſo ein ordentlicher Wolluͤſtling dasjenige, was die Natur aus dem Menſchen haben will. — Nach dieſem meinen neuen Syſtem genieſſe ich nun eine Zeit lang die Ergetzungen dieſes Lebens mit aller Behutſam- keit und Sorgfalt. — Und nichts deſtoweniger finden ſich ge- wiſſe Augenblicke, da mir iſt, als wenn mir etwas fehlet. Jch kann den Ekel und Ueberdruß mit aller meiner Muͤhe nicht vermeiden; ich werde unzufrieden; alles wird mir zur Laſt, und ich ſelbſt. Jch zerſtreue mich; aber ich ſpuͤre bald, daß ich meinen Unmuth zwar auf eine kleine Zeit vergeſſe, aber nicht hebe. Jch nehme meine Zuflucht zu meinen gewohnten Vergnuͤgungen, zu den unſchaͤdlichſten, die ich kenne; allein in dieſen truͤben Stunden habe ich gleichſam den Geſchmack daran verlohren; ſie ſind itzo das nicht, was mich befriedigen kann;

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Zitationshilfe: [Spalding, Johann Joachim]: Betrachtung über die Bestimmung des Menschen. 3. Aufl. Berlin, 1749, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spalding_bestimmung_1749/17>, abgerufen am 21.11.2024.