Simmel, Georg: Stefan George. Eine kunstphilosophische Studie. In: Neue Deutsche Rundschau (Freie Bühne) 12, 2 (1901), S. 207–215.Die Selbständigkeit des Genießenden gegenüber den Künstlern seiner Zeit geht selten weiter als bis zur Unbefriedigung an der einzelnen Leistung, an der einzelnen künstlerischen Persönlichkeit, vielleicht auch an dem Können der ganzen Generation; nicht aber darauf, daß der Umfang ihrer Probleme überhaupt verkümmert oder verfälscht ist; diesen vielmehr pflegt man an jeder gegenwärtigen Kunst einfach hinzunehmen. Unterläge man hier nicht der Suggestion durch die Kunst, die da ist, so wäre uns schon längst die Tyrannei unerträglich geworden, die in der Lyrik das erotische Motiv ausübt. Jst das Wesen der Seele: Einheit des Mannigfaltigen - während alles Körperhafte in ein unaufhebbares Außereinander gebannt ist - so ist keine Kunstform so, wie die lyrische durch ihre überschaubare Enge geeignet, diese Kraft und Geheimniß der Seele wirksam und fühlbar zu machen. Aber die Gesammtheit ihrer Jnhalte, an deren jedem die Seele durch diese Form ihr tiefstes Sein offenbaren könnte, ist zu Gunsten jenes Einen schlechthin vernachlässigt worden. Hierfür ist großentheils der Einfluß Goethes verantwortlich, wenn auch nur so, wie Michelangelo für die Entstehung des Barock. Das unermeßliche Künstlerthum Goethes ließ freilich auch die jedem Triebe unmittelbar entquellende Aeußerung als Kunstwerk zu Tage treten; er konnte "singen wie der Vogel singt", und ganz von selbst hatte es die Distanz gegen alles Vereinzelte und Subjektive, deren Mangel sonst die Klippe der erotischen Kunst bildet. Von der Erregung durch das Liebesgefühl aus gesehen wirkt freilich auch die schlechteste Versmacherei noch als Distanzirung: daher die Erlöstheit und Befreiung, die der Dilettant in ihr findet. Aber vom Standpunkt der Kunst aus ist fast die ganze Lyrik des 19. Jahrhunderts - mit der leuchtenden Ausnahme Hölderlins - von dem Athem naturalistischen Trieblebens durchdrungen. Mag man auch diese Reize nicht rigoristisch zurückweisen, so verräth es doch eine seelische Armuth der Zeit, daß sie sich einer Kunstform, die der ganzen Weite des Jnnenlebens Raum gäbe, nur unter dem Zusatz von Attraktionen zu bedienen pflegt, die von außerhalb der Kunst stammen. Vielleicht ist die Linie, die das künstlerische Wesen Stefan Georges umschreibt, am deutlichsten von diesem Punkt aus zu ziehen. Der organische, oder richtiger: überorganische Prozeß aller Kunst, in dem sie die Jnhalte des Lebens über das Leben selbst hinauswachsen läßt, dürfte einmal an der Höhe besonders sichtbar sein, in die der Dichter sich und uns über die Unmittelbarkeit jener Jmpulse selbst da stellt, wo sie seinen Gegenstand bilden; und demnächst an Die Selbständigkeit des Genießenden gegenüber den Künstlern seiner Zeit geht selten weiter als bis zur Unbefriedigung an der einzelnen Leistung, an der einzelnen künstlerischen Persönlichkeit, vielleicht auch an dem Können der ganzen Generation; nicht aber darauf, daß der Umfang ihrer Probleme überhaupt verkümmert oder verfälscht ist; diesen vielmehr pflegt man an jeder gegenwärtigen Kunst einfach hinzunehmen. Unterläge man hier nicht der Suggestion durch die Kunst, die da ist, so wäre uns schon längst die Tyrannei unerträglich geworden, die in der Lyrik das erotische Motiv ausübt. Jst das Wesen der Seele: Einheit des Mannigfaltigen – während alles Körperhafte in ein unaufhebbares Außereinander gebannt ist – so ist keine Kunstform so, wie die lyrische durch ihre überschaubare Enge geeignet, diese Kraft und Geheimniß der Seele wirksam und fühlbar zu machen. Aber die Gesammtheit ihrer Jnhalte, an deren jedem die Seele durch diese Form ihr tiefstes Sein offenbaren könnte, ist zu Gunsten jenes Einen schlechthin vernachlässigt worden. Hierfür ist großentheils der Einfluß Goethes verantwortlich, wenn auch nur so, wie Michelangelo für die Entstehung des Barock. Das unermeßliche Künstlerthum Goethes ließ freilich auch die jedem Triebe unmittelbar entquellende Aeußerung als Kunstwerk zu Tage treten; er konnte „singen wie der Vogel singt“, und ganz von selbst hatte es die Distanz gegen alles Vereinzelte und Subjektive, deren Mangel sonst die Klippe der erotischen Kunst bildet. Von der Erregung durch das Liebesgefühl aus gesehen wirkt freilich auch die schlechteste Versmacherei noch als Distanzirung: daher die Erlöstheit und Befreiung, die der Dilettant in ihr findet. Aber vom Standpunkt der Kunst aus ist fast die ganze Lyrik des 19. Jahrhunderts – mit der leuchtenden Ausnahme Hölderlins – von dem Athem naturalistischen Trieblebens durchdrungen. Mag man auch diese Reize nicht rigoristisch zurückweisen, so verräth es doch eine seelische Armuth der Zeit, daß sie sich einer Kunstform, die der ganzen Weite des Jnnenlebens Raum gäbe, nur unter dem Zusatz von Attraktionen zu bedienen pflegt, die von außerhalb der Kunst stammen. Vielleicht ist die Linie, die das künstlerische Wesen Stefan Georges umschreibt, am deutlichsten von diesem Punkt aus zu ziehen. Der organische, oder richtiger: überorganische Prozeß aller Kunst, in dem sie die Jnhalte des Lebens über das Leben selbst hinauswachsen läßt, dürfte einmal an der Höhe besonders sichtbar sein, in die der Dichter sich und uns über die Unmittelbarkeit jener Jmpulse selbst da stellt, wo sie seinen Gegenstand bilden; und demnächst an <TEI> <text> <body> <div> <pb facs="#f0002" n="[207]"/> <head><hi rendition="#fr #larger"><persName ref="http://d-nb.info/gnd/11853856X">Stefan George</persName>.</hi><lb/><hi rendition="#g">Eine kunstphilosophische Studie.</hi><lb/> Von <hi rendition="#b"><persName ref="http://d-nb.info/gnd/118614436">Georg Simmel</persName>.</hi><lb/></head><lb/> <p>Die Selbständigkeit des Genießenden gegenüber den Künstlern seiner Zeit geht selten weiter als bis zur Unbefriedigung an der einzelnen Leistung, an der einzelnen künstlerischen Persönlichkeit, vielleicht auch an dem Können der ganzen Generation; nicht aber darauf, daß der Umfang ihrer Probleme überhaupt verkümmert oder verfälscht ist; diesen vielmehr pflegt man an jeder gegenwärtigen Kunst einfach hinzunehmen. Unterläge man hier nicht der Suggestion durch die Kunst, die da ist, so wäre uns schon längst die Tyrannei unerträglich geworden, die in der Lyrik das erotische Motiv ausübt. Jst das Wesen der Seele: Einheit des Mannigfaltigen – während alles Körperhafte in ein unaufhebbares Außereinander gebannt ist – so ist keine Kunstform so, wie die lyrische durch ihre überschaubare Enge geeignet, diese Kraft und Geheimniß der Seele wirksam und fühlbar zu machen. Aber die Gesammtheit ihrer Jnhalte, an deren jedem die Seele durch diese Form ihr tiefstes Sein offenbaren könnte, ist zu Gunsten jenes Einen schlechthin vernachlässigt worden. Hierfür ist großentheils der Einfluß Goethes verantwortlich, wenn auch nur so, wie Michelangelo für die Entstehung des Barock. Das unermeßliche Künstlerthum Goethes ließ freilich auch die jedem Triebe unmittelbar entquellende Aeußerung als Kunstwerk zu Tage treten; er konnte „singen wie der Vogel singt“, und ganz von selbst hatte es die Distanz gegen alles Vereinzelte und Subjektive, deren Mangel sonst die Klippe der erotischen Kunst bildet. Von der Erregung durch das Liebesgefühl aus gesehen wirkt freilich auch die schlechteste Versmacherei noch als Distanzirung: daher die Erlöstheit und Befreiung, die der Dilettant in ihr findet. Aber vom Standpunkt der Kunst aus ist fast die ganze Lyrik des 19. Jahrhunderts – mit der leuchtenden Ausnahme Hölderlins – von dem Athem naturalistischen Trieblebens durchdrungen. Mag man auch diese Reize nicht rigoristisch zurückweisen, so verräth es doch eine seelische Armuth der Zeit, daß sie sich einer Kunstform, die der ganzen Weite des Jnnenlebens Raum gäbe, nur unter dem Zusatz von Attraktionen zu bedienen pflegt, die von außerhalb der Kunst stammen.</p><lb/> <p>Vielleicht ist die Linie, die das künstlerische Wesen Stefan Georges umschreibt, am deutlichsten von diesem Punkt aus zu ziehen. Der organische, oder richtiger: überorganische Prozeß aller Kunst, in dem sie die Jnhalte des Lebens über das Leben selbst hinauswachsen läßt, dürfte einmal an der Höhe besonders sichtbar sein, in die der Dichter sich und uns über die Unmittelbarkeit jener Jmpulse selbst da stellt, wo sie seinen Gegenstand bilden; und demnächst an<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [[207]/0002]
Stefan George.
Eine kunstphilosophische Studie.
Von Georg Simmel.
Die Selbständigkeit des Genießenden gegenüber den Künstlern seiner Zeit geht selten weiter als bis zur Unbefriedigung an der einzelnen Leistung, an der einzelnen künstlerischen Persönlichkeit, vielleicht auch an dem Können der ganzen Generation; nicht aber darauf, daß der Umfang ihrer Probleme überhaupt verkümmert oder verfälscht ist; diesen vielmehr pflegt man an jeder gegenwärtigen Kunst einfach hinzunehmen. Unterläge man hier nicht der Suggestion durch die Kunst, die da ist, so wäre uns schon längst die Tyrannei unerträglich geworden, die in der Lyrik das erotische Motiv ausübt. Jst das Wesen der Seele: Einheit des Mannigfaltigen – während alles Körperhafte in ein unaufhebbares Außereinander gebannt ist – so ist keine Kunstform so, wie die lyrische durch ihre überschaubare Enge geeignet, diese Kraft und Geheimniß der Seele wirksam und fühlbar zu machen. Aber die Gesammtheit ihrer Jnhalte, an deren jedem die Seele durch diese Form ihr tiefstes Sein offenbaren könnte, ist zu Gunsten jenes Einen schlechthin vernachlässigt worden. Hierfür ist großentheils der Einfluß Goethes verantwortlich, wenn auch nur so, wie Michelangelo für die Entstehung des Barock. Das unermeßliche Künstlerthum Goethes ließ freilich auch die jedem Triebe unmittelbar entquellende Aeußerung als Kunstwerk zu Tage treten; er konnte „singen wie der Vogel singt“, und ganz von selbst hatte es die Distanz gegen alles Vereinzelte und Subjektive, deren Mangel sonst die Klippe der erotischen Kunst bildet. Von der Erregung durch das Liebesgefühl aus gesehen wirkt freilich auch die schlechteste Versmacherei noch als Distanzirung: daher die Erlöstheit und Befreiung, die der Dilettant in ihr findet. Aber vom Standpunkt der Kunst aus ist fast die ganze Lyrik des 19. Jahrhunderts – mit der leuchtenden Ausnahme Hölderlins – von dem Athem naturalistischen Trieblebens durchdrungen. Mag man auch diese Reize nicht rigoristisch zurückweisen, so verräth es doch eine seelische Armuth der Zeit, daß sie sich einer Kunstform, die der ganzen Weite des Jnnenlebens Raum gäbe, nur unter dem Zusatz von Attraktionen zu bedienen pflegt, die von außerhalb der Kunst stammen.
Vielleicht ist die Linie, die das künstlerische Wesen Stefan Georges umschreibt, am deutlichsten von diesem Punkt aus zu ziehen. Der organische, oder richtiger: überorganische Prozeß aller Kunst, in dem sie die Jnhalte des Lebens über das Leben selbst hinauswachsen läßt, dürfte einmal an der Höhe besonders sichtbar sein, in die der Dichter sich und uns über die Unmittelbarkeit jener Jmpulse selbst da stellt, wo sie seinen Gegenstand bilden; und demnächst an
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Zitationshilfe: | Simmel, Georg: Stefan George. Eine kunstphilosophische Studie. In: Neue Deutsche Rundschau (Freie Bühne) 12, 2 (1901), S. 207–215, hier S. [207]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_george_1901/2>, abgerufen am 16.07.2024. |