mehr relative Wahrheiten nie wissen können, ob wir denn wirklich an dieser sachlich letzten Instanz angelangt sind, von jeder erreichten also wieder auf den Weg zu einer noch allgemeineren und tieferen gewiesen werden; oder die Wahrheit besteht in einem Gegenseitigkeits- verhältnis innerhalb eben desselben Vorstellungskomplexes, und ihre Beweisbarkeit ist eine wechselseitige. Dass sich diese Gegenseitigkeit des Bewahrheitens dem Blicke für gewöhnlich verbirgt, geschieht aus keinem anderen Grunde, als aus dem auch die Gegenseitigkeit der Schwere nicht unmittelbar bemerkt wird. Da nämlich in jedem ge- gebnen Augenblicke die ungeheure Mehrzahl unserer Vorstellungen un- angezweifelt hingenommen wird und in ihm die Untersuchung auf Wahrsein nur eine einzelne zu treffen pflegt, so wird die Entscheidung über dasselbe nach der Harmonie oder dem Widerspruch mit dem be- reits vorhandenen, als gesichert vorausgesetzten Gesamtkomplex unserer Vorstellungen getroffen -- während ein anderes Mal irgend eine Vor- stellung aus diesem Komplex fraglich werden und die jetzt fragliche zu der über sie entscheidenden Majorität gehören mag. Das ungeheure quantitative Missverhältnis zwischen der aktuell grade fraglichen und der aktuell als gesichert geltenden Masse der Vorstellungen verschleiert das Gegenseitigkeitsverhältnis hier ebenso, wie das entsprechende be- wirkte, dass man so lange nur die Anziehungskraft der Erde für den Apfel, aber nicht die des Apfels für die Erde bemerkte. Und wie in- folgedessen ein Körper die Schwere als eine selbständige Qualität seiner zu haben schien, weil nur die eine Seite des Verhältnisses kon- statierbar war, so mag die Wahrheit als eine den Einzelvorstellungen an und für sich eigne Bestimmtheit gelten, weil die Gegenseitigkeit in der Bedingtheit der Elemente, in der die Wahrheit besteht, bei der verschwindenden Grösse des einzelnen gegenüber der Masse der -- im Augenblick nicht fraglichen -- Vorstellungen überhaupt unmerkbar wird. -- Die "Relativität der Wahrheit" in dem Sinne, dass all unser Wissen Stückwerk und keines unverbesserbar sei, wird oft mit einer Emphase verkündet, die mit ihrer allseitigen Unbestrittenheit in einem sonderbaren Missverhältnis steht. Was wir hier unter jenem Begriffe verstehen, ist ersichtlich etwas ganz anderes: die Relativität ist nicht eine abschwächende Zusatzbestimmung zu einem im übrigen selbstän- digen Wahrheitsbegriff, sondern ist das Wesen der Wahrheit selbst, ist die Art, auf die Vorstellungen zu Wahrheiten werden, wie sie die Art ist, auf die Begehrungsobjekte zu Werten werden. Sie bedeutet nicht, wie in jener trivialen Verwendung, einen Abzug an der Wahr- heit, von der man eigentlich ihrem Begriffe nach mehr erwarten könnte, sondern grade umgekehrt die positive Erfüllung und Gültigkeit ihres
mehr relative Wahrheiten nie wissen können, ob wir denn wirklich an dieser sachlich letzten Instanz angelangt sind, von jeder erreichten also wieder auf den Weg zu einer noch allgemeineren und tieferen gewiesen werden; oder die Wahrheit besteht in einem Gegenseitigkeits- verhältnis innerhalb eben desselben Vorstellungskomplexes, und ihre Beweisbarkeit ist eine wechselseitige. Daſs sich diese Gegenseitigkeit des Bewahrheitens dem Blicke für gewöhnlich verbirgt, geschieht aus keinem anderen Grunde, als aus dem auch die Gegenseitigkeit der Schwere nicht unmittelbar bemerkt wird. Da nämlich in jedem ge- gebnen Augenblicke die ungeheure Mehrzahl unserer Vorstellungen un- angezweifelt hingenommen wird und in ihm die Untersuchung auf Wahrsein nur eine einzelne zu treffen pflegt, so wird die Entscheidung über dasselbe nach der Harmonie oder dem Widerspruch mit dem be- reits vorhandenen, als gesichert vorausgesetzten Gesamtkomplex unserer Vorstellungen getroffen — während ein anderes Mal irgend eine Vor- stellung aus diesem Komplex fraglich werden und die jetzt fragliche zu der über sie entscheidenden Majorität gehören mag. Das ungeheure quantitative Miſsverhältnis zwischen der aktuell grade fraglichen und der aktuell als gesichert geltenden Masse der Vorstellungen verschleiert das Gegenseitigkeitsverhältnis hier ebenso, wie das entsprechende be- wirkte, daſs man so lange nur die Anziehungskraft der Erde für den Apfel, aber nicht die des Apfels für die Erde bemerkte. Und wie in- folgedessen ein Körper die Schwere als eine selbständige Qualität seiner zu haben schien, weil nur die eine Seite des Verhältnisses kon- statierbar war, so mag die Wahrheit als eine den Einzelvorstellungen an und für sich eigne Bestimmtheit gelten, weil die Gegenseitigkeit in der Bedingtheit der Elemente, in der die Wahrheit besteht, bei der verschwindenden Gröſse des einzelnen gegenüber der Masse der — im Augenblick nicht fraglichen — Vorstellungen überhaupt unmerkbar wird. — Die „Relativität der Wahrheit“ in dem Sinne, daſs all unser Wissen Stückwerk und keines unverbesserbar sei, wird oft mit einer Emphase verkündet, die mit ihrer allseitigen Unbestrittenheit in einem sonderbaren Miſsverhältnis steht. Was wir hier unter jenem Begriffe verstehen, ist ersichtlich etwas ganz anderes: die Relativität ist nicht eine abschwächende Zusatzbestimmung zu einem im übrigen selbstän- digen Wahrheitsbegriff, sondern ist das Wesen der Wahrheit selbst, ist die Art, auf die Vorstellungen zu Wahrheiten werden, wie sie die Art ist, auf die Begehrungsobjekte zu Werten werden. Sie bedeutet nicht, wie in jener trivialen Verwendung, einen Abzug an der Wahr- heit, von der man eigentlich ihrem Begriffe nach mehr erwarten könnte, sondern grade umgekehrt die positive Erfüllung und Gültigkeit ihres
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mehr relative Wahrheiten nie wissen können, ob wir denn wirklich an
dieser sachlich letzten Instanz angelangt sind, von jeder erreichten
also wieder auf den Weg zu einer noch allgemeineren und tieferen
gewiesen werden; oder die Wahrheit besteht in einem Gegenseitigkeits-
verhältnis innerhalb eben desselben Vorstellungskomplexes, und ihre
Beweisbarkeit ist eine wechselseitige. Daſs sich diese Gegenseitigkeit
des Bewahrheitens dem Blicke für gewöhnlich verbirgt, geschieht aus
keinem anderen Grunde, als aus dem auch die Gegenseitigkeit der
Schwere nicht unmittelbar bemerkt wird. Da nämlich in jedem ge-
gebnen Augenblicke die ungeheure Mehrzahl unserer Vorstellungen un-
angezweifelt hingenommen wird und in ihm die Untersuchung auf
Wahrsein nur eine einzelne zu treffen pflegt, so wird die Entscheidung
über dasselbe nach der Harmonie oder dem Widerspruch mit dem be-
reits vorhandenen, als gesichert vorausgesetzten Gesamtkomplex unserer
Vorstellungen getroffen — während ein anderes Mal irgend eine Vor-
stellung aus diesem Komplex fraglich werden und die jetzt fragliche
zu der über sie entscheidenden Majorität gehören mag. Das ungeheure
quantitative Miſsverhältnis zwischen der aktuell grade fraglichen und
der aktuell als gesichert geltenden Masse der Vorstellungen verschleiert
das Gegenseitigkeitsverhältnis hier ebenso, wie das entsprechende be-
wirkte, daſs man so lange nur die Anziehungskraft der Erde für den
Apfel, aber nicht die des Apfels für die Erde bemerkte. Und wie in-
folgedessen ein Körper die Schwere als eine selbständige Qualität
seiner zu haben schien, weil nur die eine Seite des Verhältnisses kon-
statierbar war, so mag die Wahrheit als eine den Einzelvorstellungen
an und für sich eigne Bestimmtheit gelten, weil die Gegenseitigkeit
in der Bedingtheit der Elemente, in der die Wahrheit besteht, bei der
verschwindenden Gröſse des einzelnen gegenüber der Masse der — im
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wird. — Die „Relativität der Wahrheit“ in dem Sinne, daſs all unser
Wissen Stückwerk und keines unverbesserbar sei, wird oft mit einer
Emphase verkündet, die mit ihrer allseitigen Unbestrittenheit in einem
sonderbaren Miſsverhältnis steht. Was wir hier unter jenem Begriffe
verstehen, ist ersichtlich etwas ganz anderes: die Relativität ist nicht
eine abschwächende Zusatzbestimmung zu einem im übrigen selbstän-
digen Wahrheitsbegriff, sondern ist das Wesen der Wahrheit selbst,
ist die Art, auf die Vorstellungen zu Wahrheiten werden, wie sie die
Art ist, auf die Begehrungsobjekte zu Werten werden. Sie bedeutet
nicht, wie in jener trivialen Verwendung, einen Abzug an der Wahr-
heit, von der man eigentlich ihrem Begriffe nach mehr erwarten könnte,
sondern grade umgekehrt die positive Erfüllung und Gültigkeit ihres
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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/97>, abgerufen am 27.11.2024.
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