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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900.

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idealer Zielpunkte bestimmen wollen, so gestattet dies offenbar eine
gleichzeitige Gültigkeit entgegengesetzter Prinzipien; jetzt, wo ihre
Bedeutung nur in den Wegen zu ihnen liegt, kann man diese ab-
wechselnd begehen, und sich dabei doch so wenig widersprechen, wie
man sich etwa mit dem Wechsel zwischen induktiver und deduktiver
Methode widerspricht. Erst durch diese Auflösung dogmatischer Starr-
heiten in die lebendigen, fliessenden Prozesse des Erkennens wird die
wirkliche Einheit desselben hergestellt, indem seine letzten Prinzipien
nicht mehr in der Form des gegenseitigen Sich-Ausschliessens, sondern
des Aufeinander-Angewiesenseins, gegenseitigen Sich-Hervorrufens
und Sich-Ergänzens praktisch werden. So bewegt sich z. B. die Ent-
wicklung des metaphysischen Weltbildes zwischen der Einheit
und der Vielheit der absoluten, alle Einzelanschauung begründen-
den Wirklichkeit. Unser Denken ist so angelegt, dass es nach jedem
von beiden wie nach einem definitiven Abschluss streben muss, ohne doch
mit einem von beiden abschliessen zu können. Erst wenn alle Diffe-
renzen und Vielheiten der Dinge in einen Inbegriff versöhnt sind,
findet der intellektuell-gefühlsmässige Einheitstrieb seine Ruhe. Allein
sobald diese Einheit erreicht ist, wie in der Substanz Spinozas, zeigt
sich, dass man mit ihr für das Verständnis der Welt nichts anfangen
kann, dass sie mindestens eines zweiten Prinzips bedarf, um befruchtet
zu werden. Der Monismus treibt über sich hinaus zum Dualismus oder
Pluralismus, nach dessen Setzung aber wieder das Bedürfnis nach Ein-
heit zu wirken beginnt; so dass die Entwicklung der Philosophie wie
die des individuellen Denkens von der Vielheit an die Einheit und
von der Einheit an die Vielheit gewiesen wird. Die Geschichte des
Denkens zeigt es als vergeblich, einen dieser Standpunkte als den
definitiven gewinnen zu wollen; die Struktur unserer Vernunft in ihrem
Verhältnis zum Objekt beansprucht vielmehr die Gleichberechtigung
beider und erreicht sie, indem sie die monistische Forderung in das
Prinzip gestaltet: jede Vielheit soweit wie möglich zu vereinheitlichen,
d. h. so, als ob wir am absoluten Monismus endigen sollten, -- und
die pluralistische: bei keiner Einheit Halt zu machen, sondern jeder
gegenüber nach noch einfacheren Elementen und erzeugenden Kräftepaaren
zu forschen, d. h. so, als ob das Endergebnis ein pluralistisches sein
sollte. So nimmt die Verwandlung der Dogmatik in Heuristik dem
Zirkel zwischen den höchsten und entgegengesetzten Weltprinzipien
seine Bedenklichkeit und rechtfertigt den Relativismus, der jedem von
diesen nur in der Wechselwirkung mit dem anderen einen genügenden
Sinn und eine umfassende Anwendbarkeit zuspricht.

Diese Form des Aufeinander-Angewiesenseins der Denkrichtungen

idealer Zielpunkte bestimmen wollen, so gestattet dies offenbar eine
gleichzeitige Gültigkeit entgegengesetzter Prinzipien; jetzt, wo ihre
Bedeutung nur in den Wegen zu ihnen liegt, kann man diese ab-
wechselnd begehen, und sich dabei doch so wenig widersprechen, wie
man sich etwa mit dem Wechsel zwischen induktiver und deduktiver
Methode widerspricht. Erst durch diese Auflösung dogmatischer Starr-
heiten in die lebendigen, flieſsenden Prozesse des Erkennens wird die
wirkliche Einheit desselben hergestellt, indem seine letzten Prinzipien
nicht mehr in der Form des gegenseitigen Sich-Ausschlieſsens, sondern
des Aufeinander-Angewiesenseins, gegenseitigen Sich-Hervorrufens
und Sich-Ergänzens praktisch werden. So bewegt sich z. B. die Ent-
wicklung des metaphysischen Weltbildes zwischen der Einheit
und der Vielheit der absoluten, alle Einzelanschauung begründen-
den Wirklichkeit. Unser Denken ist so angelegt, daſs es nach jedem
von beiden wie nach einem definitiven Abschluſs streben muſs, ohne doch
mit einem von beiden abschlieſsen zu können. Erst wenn alle Diffe-
renzen und Vielheiten der Dinge in einen Inbegriff versöhnt sind,
findet der intellektuell-gefühlsmäſsige Einheitstrieb seine Ruhe. Allein
sobald diese Einheit erreicht ist, wie in der Substanz Spinozas, zeigt
sich, daſs man mit ihr für das Verständnis der Welt nichts anfangen
kann, daſs sie mindestens eines zweiten Prinzips bedarf, um befruchtet
zu werden. Der Monismus treibt über sich hinaus zum Dualismus oder
Pluralismus, nach dessen Setzung aber wieder das Bedürfnis nach Ein-
heit zu wirken beginnt; so daſs die Entwicklung der Philosophie wie
die des individuellen Denkens von der Vielheit an die Einheit und
von der Einheit an die Vielheit gewiesen wird. Die Geschichte des
Denkens zeigt es als vergeblich, einen dieser Standpunkte als den
definitiven gewinnen zu wollen; die Struktur unserer Vernunft in ihrem
Verhältnis zum Objekt beansprucht vielmehr die Gleichberechtigung
beider und erreicht sie, indem sie die monistische Forderung in das
Prinzip gestaltet: jede Vielheit soweit wie möglich zu vereinheitlichen,
d. h. so, als ob wir am absoluten Monismus endigen sollten, — und
die pluralistische: bei keiner Einheit Halt zu machen, sondern jeder
gegenüber nach noch einfacheren Elementen und erzeugenden Kräftepaaren
zu forschen, d. h. so, als ob das Endergebnis ein pluralistisches sein
sollte. So nimmt die Verwandlung der Dogmatik in Heuristik dem
Zirkel zwischen den höchsten und entgegengesetzten Weltprinzipien
seine Bedenklichkeit und rechtfertigt den Relativismus, der jedem von
diesen nur in der Wechselwirkung mit dem anderen einen genügenden
Sinn und eine umfassende Anwendbarkeit zuspricht.

Diese Form des Aufeinander-Angewiesenseins der Denkrichtungen

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[69/0093] idealer Zielpunkte bestimmen wollen, so gestattet dies offenbar eine gleichzeitige Gültigkeit entgegengesetzter Prinzipien; jetzt, wo ihre Bedeutung nur in den Wegen zu ihnen liegt, kann man diese ab- wechselnd begehen, und sich dabei doch so wenig widersprechen, wie man sich etwa mit dem Wechsel zwischen induktiver und deduktiver Methode widerspricht. Erst durch diese Auflösung dogmatischer Starr- heiten in die lebendigen, flieſsenden Prozesse des Erkennens wird die wirkliche Einheit desselben hergestellt, indem seine letzten Prinzipien nicht mehr in der Form des gegenseitigen Sich-Ausschlieſsens, sondern des Aufeinander-Angewiesenseins, gegenseitigen Sich-Hervorrufens und Sich-Ergänzens praktisch werden. So bewegt sich z. B. die Ent- wicklung des metaphysischen Weltbildes zwischen der Einheit und der Vielheit der absoluten, alle Einzelanschauung begründen- den Wirklichkeit. Unser Denken ist so angelegt, daſs es nach jedem von beiden wie nach einem definitiven Abschluſs streben muſs, ohne doch mit einem von beiden abschlieſsen zu können. Erst wenn alle Diffe- renzen und Vielheiten der Dinge in einen Inbegriff versöhnt sind, findet der intellektuell-gefühlsmäſsige Einheitstrieb seine Ruhe. Allein sobald diese Einheit erreicht ist, wie in der Substanz Spinozas, zeigt sich, daſs man mit ihr für das Verständnis der Welt nichts anfangen kann, daſs sie mindestens eines zweiten Prinzips bedarf, um befruchtet zu werden. Der Monismus treibt über sich hinaus zum Dualismus oder Pluralismus, nach dessen Setzung aber wieder das Bedürfnis nach Ein- heit zu wirken beginnt; so daſs die Entwicklung der Philosophie wie die des individuellen Denkens von der Vielheit an die Einheit und von der Einheit an die Vielheit gewiesen wird. Die Geschichte des Denkens zeigt es als vergeblich, einen dieser Standpunkte als den definitiven gewinnen zu wollen; die Struktur unserer Vernunft in ihrem Verhältnis zum Objekt beansprucht vielmehr die Gleichberechtigung beider und erreicht sie, indem sie die monistische Forderung in das Prinzip gestaltet: jede Vielheit soweit wie möglich zu vereinheitlichen, d. h. so, als ob wir am absoluten Monismus endigen sollten, — und die pluralistische: bei keiner Einheit Halt zu machen, sondern jeder gegenüber nach noch einfacheren Elementen und erzeugenden Kräftepaaren zu forschen, d. h. so, als ob das Endergebnis ein pluralistisches sein sollte. So nimmt die Verwandlung der Dogmatik in Heuristik dem Zirkel zwischen den höchsten und entgegengesetzten Weltprinzipien seine Bedenklichkeit und rechtfertigt den Relativismus, der jedem von diesen nur in der Wechselwirkung mit dem anderen einen genügenden Sinn und eine umfassende Anwendbarkeit zuspricht. Diese Form des Aufeinander-Angewiesenseins der Denkrichtungen

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/93>, abgerufen am 27.11.2024.