führt? Sie ist ursprünglich nicht nützlich, weil sie wahr ist, sondern umgekehrt: mit dem Ehrennamen des Wahren statten wir diejenigen Vorstellungen aus, die, als reale Kräfte oder Bewegungen in uns wirk- sam, uns zu nützlichem Verhalten veranlassen. Darum giebt es soviel prinzipiell verschiedene Wahrheiten, wie es prinzipiell verschiedene Organisationen und Lebensanforderungen giebt. Dasjenige Sinnenbild, das für das Insekt Wahrheit ist, wäre es offenbar nicht für den Adler; denn eben dasselbe, auf Grund dessen das Insekt im Zusammenhang seiner inneren und äusseren Konstellationen zweckmässig handelt, würde den Adler im Zusammenhange der seinigen zu ganz unsinnigen und ver- derblichen Handlungen bewegen. Dass für den Menschen ein Inbegriff fester und normativer Wahrheiten zustande gekommen ist, mag so zu- sammenhängen, dass unter unseren unzähligen, psychologisch auftauchen- den Vorstellungen von jeher eine Auslese von dem Gesichtspunkte aus stattgefunden hat, ob ihre Weiterwirkungen auf das Handeln des Sub- jekts sich als nützlich oder schädlich für dieses erweisen. Die ersteren nun fixieren sich auf den gewöhnlichen Wegen der Selektion und bilden in ihrer Gesamtheit die "wahre" Vorstellungswelt. Und that- sächlich haben wir gar kein anderes definitives Kriterium für die Wahrheit einer Vorstellung vom Seienden, als dass die auf sie hin ein- geleiteten Handlungen die erwünschten Konsequenzen ergeben. Haben sich nun freilich erst durch die angedeutete Auslese, d. h. durch die Züchtung gewisser Vorstellungsweisen, diese als die dauernd zweck- mässigen gefestigt, so bilden sie unter sich ein Reich des Theoretischen, das für jede neu auftretende Vorstellung nach jetzt inneren Kriterien über Zugehörigkeit oder Entgegengesetztheit zu ihm entscheidet -- ge- rade wie die Sätze der Geometrie sich nach innerer strenger Auto- nomie aufeinander aufbauen, während die Axiome und die methodischen Normen, nach denen dieser Aufbau und das ganze Gebiet überhaupt möglich ist, selbst nicht geometrisch erweisbar sind. Das Ganze der Geometrie ist also gar nicht in demselben Sinne gültig, in dem ihre ein- zelnen Sätze es sind; während diese innerhalb ihrer, einer durch den anderen, beweisbar sind, gilt jenes Ganze nur durch Beziehung auf ein ausserhalb ihrer Gelegnes: auf die Natur des Raumes, auf die Art unserer Anschauung, auf den Zwang unserer Denknormen. So können sich zwar unsere einzelnen Erkenntnisse gegenseitig tragen, indem die einmal festgestellten Normen und Thatsachen zum Beweise für andere werden, aber das Ganze derselben hat seine Gültigkeit nur in Beziehung auf bestimmte physisch-psychische Organisationen, ihre Lebensbedingungen und die Förderlichkeit ihres Handelns.
Der Begriff der Wahrheit, als einer Beziehung der Vorstellungen
führt? Sie ist ursprünglich nicht nützlich, weil sie wahr ist, sondern umgekehrt: mit dem Ehrennamen des Wahren statten wir diejenigen Vorstellungen aus, die, als reale Kräfte oder Bewegungen in uns wirk- sam, uns zu nützlichem Verhalten veranlassen. Darum giebt es soviel prinzipiell verschiedene Wahrheiten, wie es prinzipiell verschiedene Organisationen und Lebensanforderungen giebt. Dasjenige Sinnenbild, das für das Insekt Wahrheit ist, wäre es offenbar nicht für den Adler; denn eben dasselbe, auf Grund dessen das Insekt im Zusammenhang seiner inneren und äuſseren Konstellationen zweckmäſsig handelt, würde den Adler im Zusammenhange der seinigen zu ganz unsinnigen und ver- derblichen Handlungen bewegen. Daſs für den Menschen ein Inbegriff fester und normativer Wahrheiten zustande gekommen ist, mag so zu- sammenhängen, daſs unter unseren unzähligen, psychologisch auftauchen- den Vorstellungen von jeher eine Auslese von dem Gesichtspunkte aus stattgefunden hat, ob ihre Weiterwirkungen auf das Handeln des Sub- jekts sich als nützlich oder schädlich für dieses erweisen. Die ersteren nun fixieren sich auf den gewöhnlichen Wegen der Selektion und bilden in ihrer Gesamtheit die „wahre“ Vorstellungswelt. Und that- sächlich haben wir gar kein anderes definitives Kriterium für die Wahrheit einer Vorstellung vom Seienden, als daſs die auf sie hin ein- geleiteten Handlungen die erwünschten Konsequenzen ergeben. Haben sich nun freilich erst durch die angedeutete Auslese, d. h. durch die Züchtung gewisser Vorstellungsweisen, diese als die dauernd zweck- mäſsigen gefestigt, so bilden sie unter sich ein Reich des Theoretischen, das für jede neu auftretende Vorstellung nach jetzt inneren Kriterien über Zugehörigkeit oder Entgegengesetztheit zu ihm entscheidet — ge- rade wie die Sätze der Geometrie sich nach innerer strenger Auto- nomie aufeinander aufbauen, während die Axiome und die methodischen Normen, nach denen dieser Aufbau und das ganze Gebiet überhaupt möglich ist, selbst nicht geometrisch erweisbar sind. Das Ganze der Geometrie ist also gar nicht in demselben Sinne gültig, in dem ihre ein- zelnen Sätze es sind; während diese innerhalb ihrer, einer durch den anderen, beweisbar sind, gilt jenes Ganze nur durch Beziehung auf ein auſserhalb ihrer Gelegnes: auf die Natur des Raumes, auf die Art unserer Anschauung, auf den Zwang unserer Denknormen. So können sich zwar unsere einzelnen Erkenntnisse gegenseitig tragen, indem die einmal festgestellten Normen und Thatsachen zum Beweise für andere werden, aber das Ganze derselben hat seine Gültigkeit nur in Beziehung auf bestimmte physisch-psychische Organisationen, ihre Lebensbedingungen und die Förderlichkeit ihres Handelns.
Der Begriff der Wahrheit, als einer Beziehung der Vorstellungen
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führt? Sie ist ursprünglich nicht nützlich, weil sie wahr ist, sondern
umgekehrt: mit dem Ehrennamen des Wahren statten wir diejenigen
Vorstellungen aus, die, als reale Kräfte oder Bewegungen in uns wirk-
sam, uns zu nützlichem Verhalten veranlassen. Darum giebt es soviel
prinzipiell verschiedene Wahrheiten, wie es prinzipiell verschiedene
Organisationen und Lebensanforderungen giebt. Dasjenige Sinnenbild,
das für das Insekt Wahrheit ist, wäre es offenbar nicht für den Adler;
denn eben dasselbe, auf Grund dessen das Insekt im Zusammenhang
seiner inneren und äuſseren Konstellationen zweckmäſsig handelt, würde
den Adler im Zusammenhange der seinigen zu ganz unsinnigen und ver-
derblichen Handlungen bewegen. Daſs für den Menschen ein Inbegriff
fester und normativer Wahrheiten zustande gekommen ist, mag so zu-
sammenhängen, daſs unter unseren unzähligen, psychologisch auftauchen-
den Vorstellungen von jeher eine Auslese von dem Gesichtspunkte aus
stattgefunden hat, ob ihre Weiterwirkungen auf das Handeln des Sub-
jekts sich als nützlich oder schädlich für dieses erweisen. Die ersteren
nun fixieren sich auf den gewöhnlichen Wegen der Selektion und
bilden in ihrer Gesamtheit die „wahre“ Vorstellungswelt. Und that-
sächlich haben wir gar kein anderes definitives Kriterium für die
Wahrheit einer Vorstellung vom Seienden, als daſs die auf sie hin ein-
geleiteten Handlungen die erwünschten Konsequenzen ergeben. Haben
sich nun freilich erst durch die angedeutete Auslese, d. h. durch die
Züchtung gewisser Vorstellungsweisen, diese als die dauernd zweck-
mäſsigen gefestigt, so bilden sie unter sich ein Reich des Theoretischen,
das für jede neu auftretende Vorstellung nach jetzt inneren Kriterien
über Zugehörigkeit oder Entgegengesetztheit zu ihm entscheidet — ge-
rade wie die Sätze der Geometrie sich nach innerer strenger Auto-
nomie aufeinander aufbauen, während die Axiome und die methodischen
Normen, nach denen dieser Aufbau und das ganze Gebiet überhaupt
möglich ist, selbst nicht geometrisch erweisbar sind. Das Ganze der
Geometrie ist also gar nicht in demselben Sinne gültig, in dem ihre ein-
zelnen Sätze es sind; während diese innerhalb ihrer, einer durch den
anderen, beweisbar sind, gilt jenes Ganze nur durch Beziehung auf ein
auſserhalb ihrer Gelegnes: auf die Natur des Raumes, auf die Art unserer
Anschauung, auf den Zwang unserer Denknormen. So können sich zwar
unsere einzelnen Erkenntnisse gegenseitig tragen, indem die einmal
festgestellten Normen und Thatsachen zum Beweise für andere werden,
aber das Ganze derselben hat seine Gültigkeit nur in Beziehung auf
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Der Begriff der Wahrheit, als einer Beziehung der Vorstellungen
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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/90>, abgerufen am 27.11.2024.
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