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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900.

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wir den Satz A durch den Satz B beweisen, der Satz B aber, durch
die Wahrheit von C, D, E u. s. w. hindurch schliesslich nur durch
die Wahrheit von A beweisbar ist. Die Kette der Argumentation C,
D, E u. s. w. braucht nur hinreichend lang angenommen zu werden,
so dass ihr Zurückkehren zu ihrem Ausgangspunkt sich dem Bewusst-
sein entzieht, wie die Grösse der Erde dem unmittelbaren Blick ihre
Kugelgestalt verbirgt und die Illusion erregt, als könnte man auf ihr
in grader Richtung ins Unendliche fortschreiten; und der Zusammen-
hang, den wir innerhalb unserer Welterkenntnis annehmen: dass wir
von jedem Punkte derselben zu jedem anderen durch Beweise hindurch
gelangen können -- scheint dies plausibel zu machen. Wenn wir nicht
ein für allemal dogmatisch an einer Wahrheit Halt machen wollen,
die ihrem Wesen nach keines Beweises bedürfe, so liegt es nahe, diese
Gegenseitigkeit des Sich-Beweisens für die Grundform des -- als
vollendet gedachten -- Erkennens zu halten. Das Erkennen ist so
ein freischwebender Prozess, dessen Elemente sich gegenseitig ihre
Stellung bestimmen, wie die Materienmassen es vermöge der Schwere
thun; gleich dieser ist die Wahrheit dann ein Verhältnisbegriff. Dass
unser Bild der Welt auf diese Weise "in der Luft schwebt", ist nur in
der Ordnung, da ja unsere Welt selbst es thut. Das ist keine zufällige
Koinzidenz der Worte, sondern Hinweisung auf den grundlegenden Zu-
sammenhang. Die unserem Geiste eigene Notwendigkeit, die Wahrheit
durch Beweise zu erkennen, verlegt ihre Erkennbarkeit entweder ins Un-
endliche oder biegt sie zu einem Kreise um, indem ein Satz nur im Ver-
hältnis zu einem anderen, dieser andere aber schliesslich nur im Ver-
hältnis zu jenem ersten wahr ist. Das Ganze der Erkenntnis wäre
dann so wenig "wahr", wie das Ganze der Materie schwer ist; nur
im Verhältnis der Teile untereinander gälten die Eigenschaften, die
man von dem Ganzen nicht ohne Widerspruch aussagen könnte.

Diese Gegenseitigkeit, in der sich die inneren Erkenntniselemente
die Bedeutung der Wahrheit gewähren, scheint als Ganzes von einer
weiteren Relativität getragen zu werden, die zwischen den theoretischen
und den praktischen Interessen unseres Lebens besteht. Wir sind über-
zeugt, dass alle Vorstellungen vom Seienden Funktionen besonderer phy-
sisch-psychischer Organisation sind, die dasselbe keineswegs mechanisch
abspiegeln. Vielmehr, die Weltbilder des Insekts mit seinen Facetten-
augen, des Adlers mit seinem Sehvermögen von einer uns kaum vor-
stellbaren Schärfe, des Grottenolms mit seinen zurückgebildeten Augen,
unser eigenes, sowie die unzähligen anderen, müssen durchaus von tief-
gehender Verschiedenheit sein, woraus unmittelbar zu schliessen ist,
dass keines derselben den ausserpsychischen Weltinhalt in seiner an

wir den Satz A durch den Satz B beweisen, der Satz B aber, durch
die Wahrheit von C, D, E u. s. w. hindurch schlieſslich nur durch
die Wahrheit von A beweisbar ist. Die Kette der Argumentation C,
D, E u. s. w. braucht nur hinreichend lang angenommen zu werden,
so daſs ihr Zurückkehren zu ihrem Ausgangspunkt sich dem Bewuſst-
sein entzieht, wie die Gröſse der Erde dem unmittelbaren Blick ihre
Kugelgestalt verbirgt und die Illusion erregt, als könnte man auf ihr
in grader Richtung ins Unendliche fortschreiten; und der Zusammen-
hang, den wir innerhalb unserer Welterkenntnis annehmen: daſs wir
von jedem Punkte derselben zu jedem anderen durch Beweise hindurch
gelangen können — scheint dies plausibel zu machen. Wenn wir nicht
ein für allemal dogmatisch an einer Wahrheit Halt machen wollen,
die ihrem Wesen nach keines Beweises bedürfe, so liegt es nahe, diese
Gegenseitigkeit des Sich-Beweisens für die Grundform des — als
vollendet gedachten — Erkennens zu halten. Das Erkennen ist so
ein freischwebender Prozeſs, dessen Elemente sich gegenseitig ihre
Stellung bestimmen, wie die Materienmassen es vermöge der Schwere
thun; gleich dieser ist die Wahrheit dann ein Verhältnisbegriff. Daſs
unser Bild der Welt auf diese Weise „in der Luft schwebt“, ist nur in
der Ordnung, da ja unsere Welt selbst es thut. Das ist keine zufällige
Koinzidenz der Worte, sondern Hinweisung auf den grundlegenden Zu-
sammenhang. Die unserem Geiste eigene Notwendigkeit, die Wahrheit
durch Beweise zu erkennen, verlegt ihre Erkennbarkeit entweder ins Un-
endliche oder biegt sie zu einem Kreise um, indem ein Satz nur im Ver-
hältnis zu einem anderen, dieser andere aber schlieſslich nur im Ver-
hältnis zu jenem ersten wahr ist. Das Ganze der Erkenntnis wäre
dann so wenig „wahr“, wie das Ganze der Materie schwer ist; nur
im Verhältnis der Teile untereinander gälten die Eigenschaften, die
man von dem Ganzen nicht ohne Widerspruch aussagen könnte.

Diese Gegenseitigkeit, in der sich die inneren Erkenntniselemente
die Bedeutung der Wahrheit gewähren, scheint als Ganzes von einer
weiteren Relativität getragen zu werden, die zwischen den theoretischen
und den praktischen Interessen unseres Lebens besteht. Wir sind über-
zeugt, daſs alle Vorstellungen vom Seienden Funktionen besonderer phy-
sisch-psychischer Organisation sind, die dasselbe keineswegs mechanisch
abspiegeln. Vielmehr, die Weltbilder des Insekts mit seinen Facetten-
augen, des Adlers mit seinem Sehvermögen von einer uns kaum vor-
stellbaren Schärfe, des Grottenolms mit seinen zurückgebildeten Augen,
unser eigenes, sowie die unzähligen anderen, müssen durchaus von tief-
gehender Verschiedenheit sein, woraus unmittelbar zu schlieſsen ist,
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[64/0088] wir den Satz A durch den Satz B beweisen, der Satz B aber, durch die Wahrheit von C, D, E u. s. w. hindurch schlieſslich nur durch die Wahrheit von A beweisbar ist. Die Kette der Argumentation C, D, E u. s. w. braucht nur hinreichend lang angenommen zu werden, so daſs ihr Zurückkehren zu ihrem Ausgangspunkt sich dem Bewuſst- sein entzieht, wie die Gröſse der Erde dem unmittelbaren Blick ihre Kugelgestalt verbirgt und die Illusion erregt, als könnte man auf ihr in grader Richtung ins Unendliche fortschreiten; und der Zusammen- hang, den wir innerhalb unserer Welterkenntnis annehmen: daſs wir von jedem Punkte derselben zu jedem anderen durch Beweise hindurch gelangen können — scheint dies plausibel zu machen. Wenn wir nicht ein für allemal dogmatisch an einer Wahrheit Halt machen wollen, die ihrem Wesen nach keines Beweises bedürfe, so liegt es nahe, diese Gegenseitigkeit des Sich-Beweisens für die Grundform des — als vollendet gedachten — Erkennens zu halten. Das Erkennen ist so ein freischwebender Prozeſs, dessen Elemente sich gegenseitig ihre Stellung bestimmen, wie die Materienmassen es vermöge der Schwere thun; gleich dieser ist die Wahrheit dann ein Verhältnisbegriff. Daſs unser Bild der Welt auf diese Weise „in der Luft schwebt“, ist nur in der Ordnung, da ja unsere Welt selbst es thut. Das ist keine zufällige Koinzidenz der Worte, sondern Hinweisung auf den grundlegenden Zu- sammenhang. Die unserem Geiste eigene Notwendigkeit, die Wahrheit durch Beweise zu erkennen, verlegt ihre Erkennbarkeit entweder ins Un- endliche oder biegt sie zu einem Kreise um, indem ein Satz nur im Ver- hältnis zu einem anderen, dieser andere aber schlieſslich nur im Ver- hältnis zu jenem ersten wahr ist. Das Ganze der Erkenntnis wäre dann so wenig „wahr“, wie das Ganze der Materie schwer ist; nur im Verhältnis der Teile untereinander gälten die Eigenschaften, die man von dem Ganzen nicht ohne Widerspruch aussagen könnte. Diese Gegenseitigkeit, in der sich die inneren Erkenntniselemente die Bedeutung der Wahrheit gewähren, scheint als Ganzes von einer weiteren Relativität getragen zu werden, die zwischen den theoretischen und den praktischen Interessen unseres Lebens besteht. Wir sind über- zeugt, daſs alle Vorstellungen vom Seienden Funktionen besonderer phy- sisch-psychischer Organisation sind, die dasselbe keineswegs mechanisch abspiegeln. Vielmehr, die Weltbilder des Insekts mit seinen Facetten- augen, des Adlers mit seinem Sehvermögen von einer uns kaum vor- stellbaren Schärfe, des Grottenolms mit seinen zurückgebildeten Augen, unser eigenes, sowie die unzähligen anderen, müssen durchaus von tief- gehender Verschiedenheit sein, woraus unmittelbar zu schlieſsen ist, daſs keines derselben den auſserpsychischen Weltinhalt in seiner an

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/88>, abgerufen am 27.11.2024.