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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900.

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zu sachlicher, dauernder Angemessenheit. Dadurch entsteht nun, so-
bald das eine Glied des Verhältnisses sich ändert, eine Erschütterung
und Desorientierung. Die Alterierung in den Aktiven und den Passiven
gleicht sich in ihren psychologischen Wirkungen keineswegs unmittel-
bar aus, von jeder Seite her wird das Bewusstsein der ökonomischen
Prozesse in der bisherigen Stetigkeit seines Verlaufs unterbrochen, der
Unterschied gegen den vorigen Stand macht sich auf jeder gesondert
geltend. Solange die neue Anpassung nicht vollzogen ist, wird
die gleichmässige Vermehrung des Geldes zu fortwährenden Differenz-
gefühlen und psychischen Chocs Veranlassung geben, so die Unter-
schiede, das Sich-Gegeneinander-Absetzen innerhalb der ablaufenden
Vorstellungen vertiefen und damit das Tempo des Lebens beschleu-
nigen. Deshalb ist es mindestens missverständlich, wenn man aus der
steigenden Bewegung der Einkommen auf eine "Konsolidierung der
Gesellschaft" geschlossen hat. Grade vermöge der Vermehrung des Geld-
einkommens ergreift die unteren Stände eine Erregtheit, die, je nach
dem Parteistandpunkt, als Begehrlichkeit und Neuerungssucht, oder als
gesunde Entwicklung und Schwungkraft gedeutet wird, aber bei grösserer
Stabilität des Einkommens und der Preise -- die zugleich Stabilität
der sozialen Abstände bedeutet -- jedenfalls ausbleibt.

Die beschleunigenden Wirkungen der Geldvermehrung auf den
Ablauf der ökonomisch-psychischen Prozesse verraten sich am ehesten
in den Entwicklungen schlechten Papiergeldes -- grade wie manche
Seiten der normalen Physiologie durch pathologische und Entartungs-
fälle ihre hellste Beleuchtung empfangen. Der unorganische und un-
fundamentierte Geldzufluss bewirkt zunächst ein sprunghaftes und der
inneren Regulierung entbehrendes Steigen aller Preise. Die erste Geld-
plethora reicht aber immer nur aus, um den Ansprüchen gewisser
Warenkategorien zu genügen. Deshalb zieht jede Ausgabe von un-
solidem Papiergeld die zweite nach sich, und die zweite noch weitere.
"Jeder Vorwand -- so wird über Rhode-Island vom Anfang des 18. Jahr-
hunderts berichtet -- diente zu weiterer Vermehrung der Noten. Und
wenn das Papiergeld alle Münze aus dem Lande getrieben hatte, war
die Knappheit des Silbers ein neuer Grund weiterer Emissionen."
Das ist das Tragische solcher Operationen, dass die zweite Emission
nötig ist, um den Ansprüchen zu genügen, die aus der ersten folgen.
Das wird sich um so umfassender geltend machen, je mehr das Geld
selbst das unmittelbare Zentrum der Bewegungen ist: die Preisrevo-
lutionen infolge von Papiergeldüberschwemmungen führen zu Speku-
lationen, die zu ihrer Abwicklung immer gewachsene Geldvorräte er-
fordern. Man kann sagen, dass die Tempo-Beschleunigung des sozialen

zu sachlicher, dauernder Angemessenheit. Dadurch entsteht nun, so-
bald das eine Glied des Verhältnisses sich ändert, eine Erschütterung
und Desorientierung. Die Alterierung in den Aktiven und den Passiven
gleicht sich in ihren psychologischen Wirkungen keineswegs unmittel-
bar aus, von jeder Seite her wird das Bewuſstsein der ökonomischen
Prozesse in der bisherigen Stetigkeit seines Verlaufs unterbrochen, der
Unterschied gegen den vorigen Stand macht sich auf jeder gesondert
geltend. Solange die neue Anpassung nicht vollzogen ist, wird
die gleichmäſsige Vermehrung des Geldes zu fortwährenden Differenz-
gefühlen und psychischen Chocs Veranlassung geben, so die Unter-
schiede, das Sich-Gegeneinander-Absetzen innerhalb der ablaufenden
Vorstellungen vertiefen und damit das Tempo des Lebens beschleu-
nigen. Deshalb ist es mindestens miſsverständlich, wenn man aus der
steigenden Bewegung der Einkommen auf eine „Konsolidierung der
Gesellschaft“ geschlossen hat. Grade vermöge der Vermehrung des Geld-
einkommens ergreift die unteren Stände eine Erregtheit, die, je nach
dem Parteistandpunkt, als Begehrlichkeit und Neuerungssucht, oder als
gesunde Entwicklung und Schwungkraft gedeutet wird, aber bei gröſserer
Stabilität des Einkommens und der Preise — die zugleich Stabilität
der sozialen Abstände bedeutet — jedenfalls ausbleibt.

Die beschleunigenden Wirkungen der Geldvermehrung auf den
Ablauf der ökonomisch-psychischen Prozesse verraten sich am ehesten
in den Entwicklungen schlechten Papiergeldes — grade wie manche
Seiten der normalen Physiologie durch pathologische und Entartungs-
fälle ihre hellste Beleuchtung empfangen. Der unorganische und un-
fundamentierte Geldzufluſs bewirkt zunächst ein sprunghaftes und der
inneren Regulierung entbehrendes Steigen aller Preise. Die erste Geld-
plethora reicht aber immer nur aus, um den Ansprüchen gewisser
Warenkategorien zu genügen. Deshalb zieht jede Ausgabe von un-
solidem Papiergeld die zweite nach sich, und die zweite noch weitere.
„Jeder Vorwand — so wird über Rhode-Island vom Anfang des 18. Jahr-
hunderts berichtet — diente zu weiterer Vermehrung der Noten. Und
wenn das Papiergeld alle Münze aus dem Lande getrieben hatte, war
die Knappheit des Silbers ein neuer Grund weiterer Emissionen.“
Das ist das Tragische solcher Operationen, daſs die zweite Emission
nötig ist, um den Ansprüchen zu genügen, die aus der ersten folgen.
Das wird sich um so umfassender geltend machen, je mehr das Geld
selbst das unmittelbare Zentrum der Bewegungen ist: die Preisrevo-
lutionen infolge von Papiergeldüberschwemmungen führen zu Speku-
lationen, die zu ihrer Abwicklung immer gewachsene Geldvorräte er-
fordern. Man kann sagen, daſs die Tempo-Beschleunigung des sozialen

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[540/0564] zu sachlicher, dauernder Angemessenheit. Dadurch entsteht nun, so- bald das eine Glied des Verhältnisses sich ändert, eine Erschütterung und Desorientierung. Die Alterierung in den Aktiven und den Passiven gleicht sich in ihren psychologischen Wirkungen keineswegs unmittel- bar aus, von jeder Seite her wird das Bewuſstsein der ökonomischen Prozesse in der bisherigen Stetigkeit seines Verlaufs unterbrochen, der Unterschied gegen den vorigen Stand macht sich auf jeder gesondert geltend. Solange die neue Anpassung nicht vollzogen ist, wird die gleichmäſsige Vermehrung des Geldes zu fortwährenden Differenz- gefühlen und psychischen Chocs Veranlassung geben, so die Unter- schiede, das Sich-Gegeneinander-Absetzen innerhalb der ablaufenden Vorstellungen vertiefen und damit das Tempo des Lebens beschleu- nigen. Deshalb ist es mindestens miſsverständlich, wenn man aus der steigenden Bewegung der Einkommen auf eine „Konsolidierung der Gesellschaft“ geschlossen hat. Grade vermöge der Vermehrung des Geld- einkommens ergreift die unteren Stände eine Erregtheit, die, je nach dem Parteistandpunkt, als Begehrlichkeit und Neuerungssucht, oder als gesunde Entwicklung und Schwungkraft gedeutet wird, aber bei gröſserer Stabilität des Einkommens und der Preise — die zugleich Stabilität der sozialen Abstände bedeutet — jedenfalls ausbleibt. Die beschleunigenden Wirkungen der Geldvermehrung auf den Ablauf der ökonomisch-psychischen Prozesse verraten sich am ehesten in den Entwicklungen schlechten Papiergeldes — grade wie manche Seiten der normalen Physiologie durch pathologische und Entartungs- fälle ihre hellste Beleuchtung empfangen. Der unorganische und un- fundamentierte Geldzufluſs bewirkt zunächst ein sprunghaftes und der inneren Regulierung entbehrendes Steigen aller Preise. Die erste Geld- plethora reicht aber immer nur aus, um den Ansprüchen gewisser Warenkategorien zu genügen. Deshalb zieht jede Ausgabe von un- solidem Papiergeld die zweite nach sich, und die zweite noch weitere. „Jeder Vorwand — so wird über Rhode-Island vom Anfang des 18. Jahr- hunderts berichtet — diente zu weiterer Vermehrung der Noten. Und wenn das Papiergeld alle Münze aus dem Lande getrieben hatte, war die Knappheit des Silbers ein neuer Grund weiterer Emissionen.“ Das ist das Tragische solcher Operationen, daſs die zweite Emission nötig ist, um den Ansprüchen zu genügen, die aus der ersten folgen. Das wird sich um so umfassender geltend machen, je mehr das Geld selbst das unmittelbare Zentrum der Bewegungen ist: die Preisrevo- lutionen infolge von Papiergeldüberschwemmungen führen zu Speku- lationen, die zu ihrer Abwicklung immer gewachsene Geldvorräte er- fordern. Man kann sagen, daſs die Tempo-Beschleunigung des sozialen

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 540. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/564>, abgerufen am 27.11.2024.